Obduktion
flauen Gefühl im Magen.
»Ich denke, er glaubt langsam an eine religiöse Komponente. Er hat mehrfach auf die Möglichkeit angespielt, dass er von einer höheren Macht auserwählt worden sei, um, wie er es nennt, Erleuchtung über die gesamte Welt zu bringen.«
James riss die Augen auf. »Willst du damit etwa sagen, dass er sich für eine Art Botschafter des Herrn hält?« Er atmete durch seine halb geöffneten Lippen. Solch eine Denkweise war für ihn Blasphemie, wenn nicht gar Geisteskrankheit. Er hatte so etwas schon bei bestimmten Zeloten gesehen, aber Shawn war alles andere als ein religiöser
Eiferer. James hielt beides weder für ein gutes Zeichen noch für besonders gesund. »Was ist der andere Grund?«
»Der, über den wir schon gesprochen haben. Er sieht diese ganze Angelegenheit als seinen krönenden Beitrag zur Archäologie und glaubt fest daran, dass sie ihn berühmt machen könnte. Das war ja schon immer sein oberstes Ziel, nur hatte er sich bis jetzt damit abgefunden, dass er vor hundert Jahren hätte leben müssen, um als Archäologe berühmt zu werden.«
»Nektar der Götter«, kündigte Shawn laut an, als er mit einem Kristallkelch, der bis obenhin mit weinrotem Bordeaux gefüllt war, aus der Küche zurückkehrte. »Eure Eminenz«, sagte er, verbeugte sich und reichte James das Glas.
»Wie galant«, bemerkte James und nahm den Wein. Nachdem er sein Glas zum Toast angehoben und seinen zwei Freunden zugeprostet hatte, schwenkte er den Kelch, sog das volle Aroma des Weines auf und kostete ihn. »Wahrhaftig das Getränk der Götter«, stimmte er zu.
Die drei Männer nahmen Platz und formten ein gleichseitiges Dreieck, an dessen Ecken James und Shawn sich gegenübersaßen. Jack saß auf dem Sofa direkt vor ihnen.
»Will Sana uns nicht Gesellschaft leisten?«, fragte James.
»Ich denke schon, wenn sie mit den Vorbereitungen für das Abendessen fertig ist. Es kann aber auch sein, dass sie uns ruft, wenn sie so weit ist.«
»James«, sagte Jack, »es tut gut, dich in Zivil zu sehen. Ich finde, dass du in Jeans, T-Shirt und Pullover besser aussiehst als in diesen Renaissanceprinz-Kostümen. Sie wirken so bedrohlich.«
»Das finde ich auch!«, sagte Shawn zustimmend und deutete mit seinem Scotch einen Toast an.
»Wenn es nach mir ginge, wäre ich jeden Tag so angezogen!
«, sagte James, der es sich in dem Klubsessel bequem machte, seine Füße auf den Fußhocker legte und damit wohl zum Ausdruck bringen wollte, er wäre nicht nervös, sondern ganz entspannt. »Aber jetzt bringt mich doch bitte mal auf den neuesten Stand, was den Inhalt des Ossuariums betrifft!«
»Es entwickelt sich immer besser«, erwiderte Shawn, dessen Blick zwischen den beiden hin und her zuckte. »Ich hab es noch nicht einmal dir erzählt, Jack, aber es gelang mir unter größten Schwierigkeiten, zwei Seiten der ersten Schriftrolle des Simon-Evangeliums zu entrollen, und es ist umwerfend. Unglücklicherweise wird es bei dem Tempo einen Monat oder länger dauern, bis ich mit allen drei Rollen fertig bin.«
»Inwiefern umwerfend?«, erkundigte sich James, der scheinbar unbeteiligt seine Fingernägel studierte.
Shawn lehnte sich nach vorn. Das Licht des Kaminfeuers spiegelte sich in seinen Augen. »Es war, als wäre ich auf mystische Weise ins erste Jahrhundert zurückbefördert worden, um Zeuge der Kämpfe in der frühen Kirche zu werden.«
»Das könntest du einfacher haben, mit Henry Chadwicks Die Kirche in der antiken Welt und ein wenig mehr Vertrauen in die Richtigkeit seiner Ausführungen«, sagte James und trank einen Schluck Wein.
»Das ist doch nicht ansatzweise dasselbe«, sagte Shawn. »Das hier kommt direkt von einem Mann, der damals dabei gewesen ist und der von sich selbst glaubte, ein wichtiger Teil dieser Geschichte zu sein.«
»Wie kommst du darauf? Weil er versucht hat, Petrus die Gabe abzukaufen, die er vom Heiligen Geist bekam?«, fragte James lachend.
»James, deine Meinung zu dem Ossuarium und dessen Inhalt kenne ich bereits«, kritisierte Shawn ihn freundlich.
»Aber ich glaube, du solltest erst einmal weiter zuhören. Du wirst meine Meinung nicht ändern, indem du dich über das lustig machst, was wir bis jetzt wissen, ehe du es überhaupt gehört hast.«
»Ich glaube, meine Aufgabe ist es eher, dich am Abheben zu hindern«, gab James zurück. »Für mich sieht es so aus, dass du derjenige bist, der zu voreiligen Schlüssen neigt.«
»Ich werde vielleicht früher oder später eine
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