Obduktion
Realitätsprüfung brauchen, aber sicher nicht, bevor du verstanden hast, was wir bereits wissen und was wir den Schriftrollen und den Knochen entnehmen können.«
»Du hast recht«, stimmte James ihm zu. »Lass hören, was du angeblich bis jetzt erfahren hast.«
»Das Evangelium beginnt mit einem Paukenschlag«, fing Shawn an. »Simon stellt sich selbst als Simon von Samaria dar, um sicherzugehen, dass der Leser ihn von einer anderen Figur seiner Zeit unterscheiden kann, nämlich von Jesus von Nazareth.«
Obwohl er sich gerade eben noch vorgenommen hatte, höflich zu sein, während Shawn erzählte, brach James nun in schallendes Gelächter aus. »Du willst mir also erzählen, dass sich Simon in seinem Evangelium mit Jesus auf eine Stufe stellt, wenn nicht sogar drüber?«
»Das will ich damit sagen«, sagte Shawn. »Simon schreibt, mit sichtlicher Ehrfurcht, dass Jesus von Nazareth das Wort Gottes verbreitet hat und er der Messias ist, der uns von allen Sünden, vor allem der Erbsünde, befreit. Aber er sagt auch von sich selbst, dass er die Gnosis, oder das Wissen, repräsentiert. Die große Macht, die gekommen ist, um das Wissen der Wahrheit zu verbreiten und die Jesus ablösen wird, genau wie dieser den jüdischen Glauben und die Gesetze Moses’ abgelöst hat.«
»Also schreibt Simon, er sei gottgeweiht?«, fragte James, der immer noch ein ungläubiges, gequältes Lächeln auf dem Gesicht hatte.
»Nicht so wie Jesus«, fuhr Shawn fort. »Du wirst dir den Text mal in Ruhe durchlesen und dich selbst davon überzeugen müssen, nachdem ich ihn vollständig abgerollt und sicher unter Glas verstaut habe. Simon glaubte, wie andere Gnostiker, er hätte einen göttlichen Funken, weil er mit Gnosis, dem besonderen Wissen, gesegnet war.«
»Das ist frühchristlicher Gnostizismus«, sagte James, um Jack auf seine Seite zu ziehen.
»Auf jeden Fall«, stellte Shawn fest, der nun auch lachte. »Vielleicht war Simon der erste gnostische Christ, darum war Basilides auch so scharf drauf, Saturninus über seinen Meister zu befragen. Simon fährt damit fort, dass der brutale jüdische Gott, der die Welt geschaffen hat, nicht der gleiche Gott ist wie der Vater von Jesus von Nazareth. Dieser ist der wahre Gott, der perfekte Gott, der nicht in die unvollkommene und gefährliche materielle Welt eingreift.«
»Dann war Simon also ein früher Platoniker, der seine jüdischen Wurzeln leugnete.«
»Genau«, sagte Shawn immer noch lächelnd. »Simon war mehr Paulus als Petrus; einige waren der Meinung, dass er in seinen jungen Jahren mehr mit Petrus gemeinsam hatte, schließlich wuchs er in Samaria in einfachen Verhältnissen auf, ebenso wie Petrus im benachbarten Galiläa. Ich finde das alles faszinierend, und dabei habe ich erst zwei Seiten abgerollt. Besonders faszinierend finde ich Simons Idee, Jesus’ Mission zu ergänzen, indem er diesem die Rolle des Erlösers der Sünder zusprach, während er, Simon, sich dem Thema der Allwissenheit widmete. Ich frage mich, ob Simons Evangelium vielleicht
sogar dazu führt, dass seine jahrhundertelange Rolle als Prügelknabe neu überdacht werden muss.«
»Das bezweifle ich stark«, sagte James. Das Letzte, was James jetzt brauchte, war ein Simon, der sich selbst erlöst hatte. »Seine Niederträchtigkeit ist kirchenrechtlich bewiesen und nicht wiedergutzumachen, schon gar nicht durch etwas, was er vielleicht selbst geschrieben hat.«
»Das Essen ist fertig«, rief Sana, die aus der Küche kam und an einem Glas Wein nippte.
Die Männer sprangen auf, und während Shawn noch etwas Holz in den Kamin warf, um das Feuer in Gang zu halten, folgten James und Jack ihr in den hinteren Teil des Hauses, wo ein Esstisch in einem kleinen Wintergarten stand.
»Diese verdammte Geschichte wird immer schlimmer«, murmelte James Jack zu, als sie Platz genommen hatten und weder Shawn noch Sana sie hören konnten.
Jack nickte, obwohl es aus seiner Sicht genau umgekehrt war. Doch das wollte er gegenüber James, der eindeutig nervöser war als zu Beginn, nicht durchblicken lassen.
Ein paar Minuten später saßen alle am Tisch, und Shawn bat James, das Tischgebet zu sprechen. Es war eine angenehme Umgebung. Man konnte kaum glauben, dass man sich hier mitten im New Yorker West Village befand, so ruhig war es. Keine einzige Sirene war zu hören. Shawn hatte die Lichter eingeschaltet, die den sorgfältig geplanten und bezaubernd angelegten japanischen Garten beleuchteten, der von einem Zaun aus
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