Obduktion
bezaubernd das Haus war. Über alle vier Stockwerke hinweg war nichts rechtwinklig oder im Lot. Alle Fensterrahmen und sogar der Rahmen der Eingangstür waren leicht nach rechts geneigt, und man konnte den Eindruck gewinnen, das ganze Gebäude würde direkt gegen das wesentlich stabiler wirkende Backsteinhaus des Nachbarn fallen, wenn man die Tür aus Versehen zu heftig zuschlug.
Die seitlichen Schindeln waren hellgrau, während die Holzbalken und Rahmen in einem blassen Gelb gestrichen waren. Das Dach, von dem man außer den Ecken der Dachfenster kaum etwas sah, war aus hellgrauem Schiefer. Die Eingangstür hatte einen Einsatz aus Butzenscheiben und war dunkelgrün, fast die gleiche Farbe wie James’ Range Rover. In der Mitte der Tür war ein Türklopfer aus Messing in Form einer menschlichen Hand angebracht, die einen Ball hielt. Links neben der Tür befand sich ein Schild, auf dem CAPTAIN HORATIO FROBER HOUSE, 1784 stand.
James lächelte innerlich. Es war genau die Art von unkonventioneller Behausung, die zu Shawn passte. Es gab keinen Zweifel, dass er sich gern von der Menge abhob, ein Gedanke, der James auf eine weitere Idee brachte. Vielleicht könnte er es arrangieren, dass man Shawn, wenn er versprach, nichts über die Reliquie der Jungfrau Maria zu veröffentlichen, eine Auszeichnung verleihen würde, eine Art modernen Malteserorden.
Mit dem beruhigenden Gefühl, so etwas wie einen Plan zu haben, wenn auch von zweifelhafter Wirkungskraft, griff er nach dem Türklopfer und kündigte sich mit ein paar kräftigen Schlägen auf den Messingsockel an. Dann zuckte er zusammen, weil ihm wieder einfiel, dass das gesamte Haus eine heikle Tendenz nach rechts hatte.
Innerhalb von Sekunden wurde die Tür von einem euphorischen Shawn aufgerissen, der einen Scotch auf Eis in der Hand hielt und wie ein Honigkuchenpferd grinste.
»Unser Ehrengast ist da!«, rief er über seine Schulter hinweg ins Haus, aus dem ein herrlicher Duft von gegrilltem Fleisch strömte. Im Hintergrund lief ein Konzert von Beethoven. Aus dem verrauchten, von Kerzenlicht beleuchteten Raum tauchten Sana und Jack an Shawns Seite auf. Es folgten zahllose begeisterte Ausrufe, Umarmungen und Schulterklopfen, mit denen James ins Wohnzimmer eingeladen wurde. Ein kleines Feuer prasselte in dem Feldsteinkamin hinter einem feinmaschigen Schutzgitter.
»Meine Güte«, sagte James und legte sich in einer Geste der Rührung die flache Hand auf die Brust. »Ich hatte ganz vergessen, wie gemütlich ihr es hier habt. Das übertrifft sogar mein Landhaus am See in Jersey.«
»Nun, setz dich hin und amüsiere dich, Geburtstagskind«, sagte Shawn, der James behutsam am Ellenbogen zu einem Klubsessel mit passender Fußbank gleich neben dem Kamin führte. Das Licht des Kamins und der Kerzen ließ seine chronisch roten Wangen fast wie Blutergüsse wirken. »Was würdest du vorziehen? Wir haben einen ausgezeichneten, erlesenen Pétrus, den ich schon vor Stunden dekantiert habe, oder deinen üblichen Single-Malt-Scotch.«
»Meine Güte«, sagte James wieder. Solche Extravaganz entfachte in ihm sofort seine Sorge über einen möglichen Durchbruch in Sachen Ossuarium. »Ein Pétrus! Das ist weiß Gott ein Fest!«
»Darauf kannst du wetten!«, bestätigte Shawn. »Also, was darf es sein?«
»Pétrus ist ein seltenes Vergnügen, und vorausgesetzt,
ich trinke euch nicht den Wein für euer Abendessen weg, hätte ich gern ein Glas davon.«
»Kein Problem, alter Freund«, sagte Shawn und verschwand hinter Sana in die Küche.
Nachdem der Wirbel der Begrüßungen sich gelegt hatte, tauschten James und Jack einen kurzen Blick aus. »Danke fürs Kommen«, sagte James sehr leise. »Auch wenn ich hierher kommen musste, um meinen Feldzug zu starten, bin ich nicht sicher, ob ich mich ohne deine Anwesenheit dazu hätte aufraffen können.«
»Ich bin gern gekommen«, erwiderte Jack ebenso leise, auch wenn die Chance, dass man sie in der Küche hören könnte, wegen der Musik sehr gering war. »Ich fühle mich allerdings verpflichtet, dir zu sagen, dass Shawn wild entschlossen ist, diese Jungfrau-Maria-Geschichte zu veröffentlichen. Ich habe mit ihm darüber geredet, dabei aber immer mehr das Gefühl bekommen, dass er es nicht einmal in Erwägung zieht, die Geschichte nicht zu veröffentlichen, und das aus einem etwas beängstigenden Grund. Na ja, eigentlich sind es sogar zwei Gründe, aber einer steht im Vordergrund.«
»Was sind das für Gründe?«, fragte James mit einem
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