Obduktion
Weines.
»Jetzt muss ich die Unterhaltung leider einem etwas ernsteren Thema widmen«, sagte James und wandte sich direkt an Shawn. »Ich kann deine Aufregung über den Inhalt des Ossuariums sehr gut nachvollziehen, aber ich fürchte, ich muss deinen Enthusiasmus ein wenig dämpfen, denn wie ich dir bereits gestern gesagt habe, wird auch dir irgendwann klar werden, dass es sich bei dieser ganzen Sache um nichts weiter als eine aufwendige Fälschung handelt, die sich dieser mysteriöse Saturninus ausgedacht hat. Nachdem ich dieser ganzen Angelegenheit ernsthafte Gedanken und Gebete gewidmet habe, bin ich mir absolut sicher, dass es so sein muss. Ich weiß nicht, warum diese Person das getan hat, und ich will es auch gar nicht wissen, weil es ein Teufelswerk ist. Vielleicht hat er eine persönliche Fehde gegen die sich entwickelnde Kirche ausgetragen, weil sie zu Recht die gnostischen Ketzer verurteilt hat, die er laut seinem Brief unterstützt.
Gleichzeitig hatte er wohl schon eine Vorahnung über die Rolle, die Maria als wichtigstes Symbol der katholischen Spiritualität und des Glaubens zukünftig spielen würde, und auch davon, dass viele heutige Katholiken das Gebet zu ihr als wichtige Unterstützung bei der Suche nach persönlicher Erlösung ansehen. Päpste haben schon immer den engen Zusammenhang zwischen Maria und der wirklichen Anerkennung von Jesus von Nazareth als dem Sohn Gottes hervorgehoben. Die Kirche ist das Volk Gottes, und Maria ist der Leib Christi. Und für die Frauen im Allgemeinen ist sie diejenige, die sie von den Sünden Evas erlöst. So sehr sich Eva von Gott abgewandt hatte, so sehr folgte Maria gehorsam seinen Wünschen und gebar seinen Sohn in unbefleckter Empfängnis.«
»Wie kannst du in diesem frühen Stadium der Untersuchung bloß behaupten, dass es sich um eine Fälschung handelt?«, schrie Shawn, der so kräftig auf den Tisch schlug, dass die Teller und Schüsseln schepperten.
»Hab Vertrauen, mein Sohn«, sagte James streng und hob seine Hand in die Höhe, wie ein Polizist, der den Verkehr stoppt, »denn der Heilige Geist wirkt sowohl als sensus fidelium im Kirchenvolk als auch durch die kirchlichen Institutionen und vor allem durch den Papst.«
Shawn schlug die Hände über dem Kopf zusammen, sah zu Jack hinüber und rollte mit den Augen. »Hörst du den Typen? Jetzt bringt er auch noch Lateinisch ins Spiel, um mich zu verwirren und um in der Diskussion zu punkten. Das ist wieder wie damals auf dem College. Und weißt du, worauf er hinauswill? Er will wieder auf die gleiche Unfehlbarkeitsdiskussion hinaus, die wir schon auf dem College immer führten. Manche Sachen ändern sich doch nie!«
Shawn wandte sich wieder James zu, der seine Hand immer noch wie ein Verkehrspolizist hochhielt. »Hab ich
nicht recht, Pummel? Rutschen wir nicht gerade wieder in unseren alten Streit über die Unfehlbarkeit, die der Papst für sich in Anspruch nimmt, wenn er als Oberhaupt der Kirche und Bischof von Rom ex cathedra seine Ansichten zum Glauben und zur Moral von sich gibt? Ist es nicht das, worauf die Diskussion jetzt hinausläuft?«
»Lass mich das eine Thema bitte zu Ende bringen, ehe wir ein neues anfangen«, sagte James, der trotz Shawns Impertinenz versuchte, ruhig zu bleiben. »Es ist doch so: Jede Veröffentlichung über den Inhalt des Ossuariums, die einen Zusammenhang herstellt zur Heiligen Jungfrau, zur Mutter der Kirche, zur Muttergottes, wie sie Patriarch Kyrill von Alexandria in seinen Marienstudien und Bernard Clairvaux bezeichnen, jede Veröffentlichung würde der Kirche einen irreparablen Schaden zufügen, vor allem in dieser Zeit, in der die kirchliche Autorität durch die Missbrauchsaffären schon so geschwächt ist. Das Zölibat, jetzt schon infrage gestellt, wird noch stärker angegriffen werden. Die Zahl der Priester ist bereits kritisch gesunken und sie wird noch weiter zurückgehen. Ich habe in meiner Erzdiözese in New York bereits zehn Gemeinden ohne Pfarrer. Ich habe jetzt schon zu wenig Priester.«
»Das ist doch nicht mein Problem!« Shawn verlor endgültig die Geduld. »Es ist die Schuld der Kirche. Sie sollte endlich begreifen, dass wir uns nicht mehr im Mittelalter befinden, und aufhören, sich selbst in die Klemme zu bringen, indem sie sich auf dieses Unfehlbarkeitsdogma verlässt, anstatt die Fakten anzuerkennen. Da wiederholt sich die Affäre Galileo ständig.«
»Die hatte mit päpstlicher Unfehlbarkeit gar nichts zu tun.«
»Das sehe ich aber anders.
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