Obduktion
zugreifen konnte. Im Unterschied zu einem normalen Buch, wie zum Beispiel der Gutenberg-Bibel, wurde es komplett von Hand gemacht. Sei vorsichtig damit! Es ist über fünfzehnhundert Jahre alt. Mehr als tausend Jahre hat es in einem versiegelten Gefäß im Sand vergraben gelegen.«
»Meine Güte!«, antwortete Sana. Sie war nicht sicher, ob sie etwas so Altes in Händen halten wollte, aus Angst, es könnte zwischen ihren Fingern zu Staub zerfallen.
»Öffne es!«, drängte er sie.
Behutsam schlug sie das Deckblatt auf. Es war steif und die Bindung knarrte hörbar. »Woraus ist der Buchdeckel gemacht?«
»Es ist eine Art Sandwich aus Leder, verstärkt durch Papyrusschichten.«
»Und die Seiten?«
»Die Seiten sind vollständig aus Papyrus.«
»In welcher Sprache ist es verfasst?«
»Koptisch; eine geschriebene Version des Altägyptischen, aber mit griechischem Alphabet.«
»Wirklich verblüffend!«, sagte Sana. Sie war beeindruckt, wunderte sich aber, warum Shawn gesagt hatte, es sei ein so wichtiger Fund für ihn. Einige der Statuen, die er in Kleinasien gefunden hatte, schienen ihr doch sehr viel bedeutender zu sein.
»Siehst du, dass ein großer Teil des Buches herausgerissen wurde?«
»Sehe ich, ja. Ist das wichtig?«
»Na und ob! Fünf der ursprünglichen, einzigartigen Texte dieses bestimmten Kodexes wurden 1940 brutal entfernt, um sie in Amerika zu verkaufen. Andere Seiten
sollen angeblich benutzt worden sein, um in den Lehmhütten der Fellachen die Herdfeuer anzuzünden.«
»Das ist ja furchtbar.«
»Allerdings. Vielen Wissenschaftlern würde es bei dieser Vorstellung grauen.«
»Mir ist aufgefallen, dass die Innenseite des Deckblattes am Rand aufgeschlitzt worden ist.«
»Das war ich vorhin. Mit einem Steakmesser.«
»War das klug? Ich meine, wenn man sich überlegt, wie alt das Ding ist. Ich könnte mir vorstellen, dass es passendere Werkzeuge als ein Steakmesser gibt.«
»Du hast recht. Es war ganz sicher nicht klug, aber ich konnte nicht anders. Zu dem Zeitpunkt war ich furchtbar enttäuscht von dem Kodex. Ich hatte eine echte Goldmine erwartet und stattdessen habe ich nur so etwas wie das Ergebnis des ersten Kopiergerätes der Welt gerettet.«
»Ich kann dir nicht ganz folgen«, gab Sana zu. Sie gab Shawn das Buch zurück, um sich der Verantwortung zu entledigen, und zog die Handschuhe aus. Seine Aufregung war nicht zu übersehen, und sie war mehr als neugierig.
»Das wundert mich nicht.« Er nahm den Kodex und legte ihn wieder auf seinen ursprünglichen Platz an der Ecke des Schreibtisches zurück. In der Mitte des Tisches, unter dem hellen Licht der Schreibtischlampe und einer weiteren Stehlampe lagen drei einzelne Blätter, beschwert mit den verschiedensten Dingen, unter anderem Shawns antiken Manschettenknöpfen aus Münzen. Durch die jahrtausendelange gefaltete Lagerung waren die Seiten stark gewölbt. Sie waren ebenfalls aus Papyrus, wie die Seiten des Kodex, aber sie sahen älter aus. Die Ecken waren schwarz und wirkten beinahe angebrannt.
»Was ist das?«, fragte Sana und zeigte auf die Papyrusblätter. »Ein Brief?« Auf der ersten Seite erkannte sie so
etwas wie eine Anrede, und die letzte Seite endete mit einer Art Unterschrift.
»Ah, dein wissenschaftlicher Geist hat natürlich sofort den Kern des Problems erfasst«, spottete Shawn. Mit flachen Händen und gespreizten Fingern strich er ehrfürchtig über die Seiten. »Es ist in der Tat ein Brief, ein sehr spezieller Brief, geschrieben 121 n. Chr., von einem etwa siebzigjährigen Bischof aus Antiochia, der den Namen Saturninus trug. Es war die Antwort auf einen früheren Brief des Bischofs Basilides aus Alexandria.«
»Mein Gott!«, rief Sana. »Das war zu Beginn des zweiten Jahrhunderts.«
»Richtig«, bemerkte Shawn, »keine hundert Jahre nach dem Tod von Jesus. Es war eine unruhige Zeit für die Kirche.«
»Kennt man die beiden?«
»Gute Frage! Basilides ist unter Bibelgelehrten sehr bekannt, Saturninus weniger, obwohl ich schon das ein oder andere Mal über seinen Namen gestolpert bin. Wenn man diesem Brief Glauben schenken kann, war Saturninus ein Lehrling oder Assistent von Simon Magus, dem Magier.«
»Den Namen kenne ich aus meiner Kindheit.«
»Ganz bestimmt. Er war nicht nur der Inbegriff des Sonntagsschulen-Bösewichts, sondern auch der Vater der Ketzerei, zumindest nach Meinung einer Reihe von Kirchenvätern. Um genau zu sein, war sein Versuch, die Gabe des Heilens von Petrus zu kaufen, der Ursprung des
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