Obduktion
die dafür nötige zusätzliche Zeit freizumachen. Aber nachdem ihre DNA-Konferenz nun vorbei war, war Sana selbst ganz erleichtert, dass sie keine Weiterreise geplant hatten. Sie war noch nicht lange genug an der medizinisch-chirurgischen Fakultät der Columbia University, um sich sicher zu fühlen. Zumal sie dort gerade an einer Reihe entscheidender Experimente arbeitete.
Sie betrat das Zimmer in einer raschen, fließenden Bewegung und hatte schon die beiden oberen Knöpfe ihrer Bluse geöffnet, noch bevor die Tür wieder ins Schloss gefallen war. Sie war schon auf halbem Weg ins Badezimmer, da erblickte sie plötzlich Shawn. Sie fuhr zusammen, als er hochsprang. Sie schauten einander an. Sana fand ihre Worte als Erste wieder, als sie die Lupe in Shawns weiß behandschuhten Händen ausmachte. »Was machst du denn hier? Warum bist du nicht am Pool?«
»Du hättest anklopfen sollen!«
»Soll ich an der Tür meines eigenen Hotelzimmers anklopfen? «, fragte sie mit leicht sarkastischem Unterton.
Shawn kicherte, als er begriff, was er für einen Blödsinn gesagt hatte. »Na ja, ich glaube, das klingt ein bisschen unrealistisch. Aber zumindest hättest du hier nicht so hereinplatzen sollen, als ob es brennt. Du hast mich total aus dem Konzept gebracht. Ich hatte mich gerade konzentriert.«
»Warum bist du nicht am Pool?«, wiederholte Sana. Hinter ihr fiel die Tür von selbst ins Schloss. »Heute ist unser letzter Tag, falls du es vergessen hast.«
»Das habe ich nicht vergessen«, sagte Shawn mit glänzenden Augen. »Ich war beschäftigt.«
»Ja, das sehe ich«, entgegnete Sana und musterte die Handschuhe und das Vergrößerungsglas. Sie machte sich daran, ihre Bluse weiter aufzuknöpfen, und steuerte auf das Badezimmer zu. Shawn stellte sich in die Tür.
»Ich denke, ich habe gerade den größten archäologischen Fund meiner Karriere gemacht. In dem Antiquitätenladen, von dem ich dir erzählt habe. Der, in dem ich die ägyptische Keramik gekauft hatte.«
»Entschuldige bitte«, sagte Sana und schob Shawn aus dem Weg, damit sie die angelehnte Badezimmertür öffnen konnte. Sie mochte es nicht, sich vor anderen umzuziehen. Nicht einmal vor Shawn, und schon gar nicht, seit sie einander neuerdings nicht mehr so nahe waren wie früher. »Ich erinnere mich«, rief sie. »Und hat das was mit deinen weißen Handschuhen und dem Vergrößerungsglas zu tun?«
»Auf jeden Fall«, erklärte Shawn der Tür. »Die Empfangsdame hatte die Handschuhe und eine Lupe für mich. Das nenne ich ein Hotel mit Rundumservice.«
»Wirst du mir jetzt von deinem Fund berichten, oder
soll ich raten?«, drängte Sana, deren Interesse erwacht war. Wenn es um seine Arbeit ging, neigte Shawn nicht zu Übertreibungen. Auf jeden Fall hatte er schon früher in seiner Karriere bei Grabungen in verschiedenen Regionen des Nahen Ostens einige bedeutende Funde gemacht. Das war noch vor seiner Zeit als hochrangiger Museumskurator gewesen, als der er sich inzwischen eher mit der Lenkung und Oberaufsicht sowie der Beschaffung von Geldern beschäftigen musste.
»Komm her, dann zeige ich es dir.«
»Ist es doch nicht so toll, wie du gehofft hattest?«
»Zuerst war ich enttäuscht. Aber inzwischen glaube ich, dass es sogar noch hundertmal besser ist, als ich zuerst gedacht hatte.«
»Wirklich?«, fragte Sana. Der Badeanzug hing unter ihrer Hüfte, als sie innehielt. Jetzt war ihre Neugierde wirklich angestachelt. Was könnte Shawn gefunden haben, das eine solche Ankündigung rechtfertigte?
Sana zog sich hüpfend den Badeanzug über den Po, zog ihn zurecht und überprüfte kurz ihr Aussehen in dem großen Spiegel hinter der Badezimmertür. Sie war ziemlich glücklich mit dem, was sie sah. Eine leidenschaftliche Läuferin mit einer schlanken, athletischen Figur und kurzem, dunkelblondem, gesundem Haar. Sie sammelte ihre Sachen zusammen und öffnete die Tür. Dann legte sie ihre Kleidung sorgsam aufs Bett und ging zum Schreibtisch.
»Hier, zieh die an«, sagte er, während er ihr ein zweites Paar frisch gewaschener, weißer Handschuhe hinhielt. »Ich habe sie extra für dich besorgt.«
»Was ist das, ein Buch?«, fragte Sana, nachdem sie die Handschuhe übergestreift hatte. Sie sah ein uralt aussehendes ledergebundenes Buch an der Ecke des Tisches liegen.
»Es ist ein Kodex«, sagte Shawn. »Es ist eins der ersten Bücher, die die Schriftrollen ersetzten, weil sie mehr Text aufnehmen konnten und weil man leichter auf verschiedene Textstellen
Weitere Kostenlose Bücher