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Obduktion

Obduktion

Titel: Obduktion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Cook
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mit Einstecktuch.
Genau wie Shawn hatte er etwas Weltmännisches, aber er war eine viel jüngere, attraktivere Ausgabe ihres Mannes.
    »Ein wunderbarer Tag, nicht wahr?« Er sprach mit un$überhörbar amerikanischem Akzent. Anders als Shawn fühlte er sich offenbar nicht genötigt, einen englischen Akzent vorzutäuschen, wenn er mit Fremden sprach.
    Hätte sich noch jemand anders im Aufzug befunden, wäre Sana davon ausgegangen, dass er mit der anderen Person redete. Sie erwiderte seinen Blick und schätzte ihn auf ungefähr achtundzwanzig. So alt wie sie. Nach seinem Äußeren zu urteilen war er finanziell offenbar durchaus erfolgreich.
    »Ein schöner Tag«, pflichtete Sana in einem Tonfall bei, der nicht gerade zu einer weiteren Konversation ermunterte. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Etagenanzeiger. Ihr Fahrstuhlbegleiter hatte zwar auf die Knöpfe geschaut, aber keinen davon gedrückt. War er etwa auch auf ihrer Etage? Oder hätte sie beunruhigt sein sollen, wenn er es nicht war? Eine Sekunde später rügte sie sich selbst für diese Gedanken. Vielleicht war sie wirklich verklemmt.
    »Sind Sie aus New York?«, fragte der Mann.
    »Ja, das bin ich«, antwortete Sana. Wäre ihr Mann im Fahrstuhl gewesen und eine Frau hätte ihn das gefragt, dann hätte er seine Kurzbiografie abgespult. Dass er in Columbus, Ohio, zur Welt gekommen war, dass er das große Stipendium für das Grundstudium in Amherst und schließlich die Graduiertenförderung für Harvard bekommen hatte und wie er dann die Karriereleiter beim Metropolitan Museum heraufgestiegen war bis hin zum Ausstellungsleiter für die Kunst des Nahen Ostens. All das in der kurzen Zeit, die der Fahrstuhl bis zur achten Etage brauchte.

    »Einen schönen Tag noch«, grüßte der Mann, als Sana aus dem Fahrstuhl auf den dicken Plüschteppich des Korridors trat. Der Mann blieb im Fahrstuhl. Während sie auf ihr Zimmer zusteuerte, fragte sie sich nach der Ursache ihrer Paranoia. Hatte sie zu lange in New York gelebt?
    Wäre Shawn mit einer Frau im Fahrstuhl gefahren, hätte es sehr gut damit enden können, dass beide auf einen Drink in eine der vielen Hotelbars gegangen wären.
    Sana blieb stehen. Sie fand Shawns mühelose Geselligkeit plötzlich irritierend. Warum? Warum gerade jetzt? Die naheliegendste Vermutung war, dass es sich um eine neue Reaktion handelte, weil sie jetzt, da ihre Ängste bezüglich der Konferenz abgeflaut waren, endlich auch einmal an ihre eigenen Probleme denken konnte. Früher war Shawn immer bewundernswert auf ihre momentanen Befindlichkeiten eingegangen – ganz besonders während jener heißen sechs Monate, in denen sie einander den Hof gemacht hatten. Aber im vergangenen Jahr – und ganz besonders während dieser Reise – war das nicht mehr der Fall gewesen. Als sie Shawn vor fast vier Jahren zum ersten Mal auf einer Vernissage in New York traf, verteidigte sie gerade ihre Doktorarbeit über mitochondriale DNA und fand seine Zuneigung und Aufmerksamkeit geradezu umwerfend. Umwerfend fand sie auch seine Gelehrsamkeit. Er beherrschte ein halbes Dutzend exotischer Sprachen und wusste Dinge über Kunst und Geschichte, von denen sie nur träumen konnte. Im Vergleich zu seinem Bildungshorizont wirkte sie selbst wie der Prototyp des engstirnigen Naturwissenschaftlers.
    Während sie langsam weiterging, überlegte sie, ob ihre Mutter womöglich recht gehabt hatte. Vielleicht waren die sechsundzwanzig Jahre Altersunterschied zwischen ihnen doch zu viel. Zugleich erinnerte sie sich aber auch
sehr genau an die Schwierigkeiten, die sie im Umgang mit Männern ihres Alters hatte, die ihre Baseballkappen falsch herum aufsetzten und sich wie Vollidioten benahmen. Anders als die meisten ihrer Freundinnen interessierte sie sich nicht dafür, Kinder zu bekommen. Schon früh hatte sie sich eingestehen müssen, dass sie durch und durch Akademikerin war und für Nachwuchs einfach keine Zeit hatte. Ihr reichten die Kinder aus Shawns erster und dritter Ehe, um die kümmerlichen Muttergefühle zu befriedigen, die sie besaß.
    Während Sana nach ihrer Schlüsselkarte griff, dachte sie an ihre Abreise, die früh am nächsten Tag geplant war. Vor ihrer Reise war sie noch enttäuscht gewesen, dass Shawn nicht mit ihr nach Luxor fahren wollte, um die Grabstätten der Adeligen und das Tal der Könige zu sehen. Ohne auf ihre Wünsche Rücksicht zu nehmen, hatte er ihr erklärt, dass er all das schon einmal gesehen hätte und es sich nicht erlauben könne,

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