Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
höchster Konzentration zur Lehrerin auf. Ich kenne das Lied nicht und bleibe stehen, weil ich einen Moment zuhören möchte. Riet geht weiter, ohne sich umzusehen. Ich muß fast rennen, um sie noch vor der Kurve einzuholen.
Wenn Riet mit uns aß, mußte ein Stuhl aus dem Elternschlafzimmer geholt werden. Der wurde dann neben Mutters Stuhl an die Längsseite des Küchentischs gestellt. Bewußt oder unbewußt hat Riet jetzt ihren Stuhl vor dem Hinsetzen etwas verschoben, so daß sie fast an der Ecke des Tisches gelandet ist. Die Küchenuhr summt. »Wie still es hier ist«, sagt sie.
Wir trinken Tee. Bald wird es Zeit, sie zurückzufahren. Stellt sie sich jetzt die Küche voller Leben vor? Kinder oder Enkel, Kinderstühlchen, eine andere Tapete, eine moderne Anrichte?
»Du warst doch der Ältere?« fragt sie.
»Ja.«
»Erst später, als er tot war und ich weggezogen war, habe ich mich manchmal gefragt, warum . . .«
»Was?«
»Warum ich mir Henk ausgesucht habe. Ich meine, warum entwickeln sich die Dinge so und nicht anders?«
»Henk hat dich ausgesucht.« Schon wieder ärgert sie mich. Sie wird doch wohl nach bald vier Jahrzehnten nicht so tun wollen, als ob sie damals das Heft in der Hand gehabt hätte?
Sie schaut mich an und hebt ihre Teetasse. Eine gute Porzellantasse. »Und noch später habe ich gedacht: Warum war Henk der Bauer? Wenn du der Ältere warst?«
»Ich bin lieber mit Mutter und dem Knecht aufs Eis gegangen, während Henk das Jungvieh versorgte.«
»Hm?«
»Ich weiß nicht, wie es kam, aber bei allem hat immer Henk die Initiative ergriffen. Er war schneller als ich, und ich glaube, er konnte besser mit den Tieren umgehen, obwohl wir alle Arbeit zusammen machten. Vater hat das gemerkt, und deshalb war Henk sein Junge, schon sehr früh.«
»Aber wolltest du denn nicht Bauer werden?«
»Ich weiß es nicht. Ich hab den Dingen immer ihren Lauf gelassen.« Jetzt hat sie mich endlich etwas gefragt, und ich merke, daß ich nur widerwillig antworte. Trotzdem füge ich noch etwas hinzu. »Jedenfalls hab ich nie etwas gesagt. Nie Einspruch erhoben.«
»Und als er starb, mußtest du ran.«
»Ja, da mußte ich ran.«
»Euer Knecht war damals doch schon weg?«
»Ja. Schon ein halbes Jahr.«
»Und?«
»Was?«
»Wie hat es dir gefallen?«
Jetzt reicht’s aber. Genausogut könnte sie mich fragen, wie mein Leben gewesen ist. Als wäre ich ihrRechenschaft schuldig, über ein Leben, das sie mit Henk zusammen hätte leben sollen. Gleich fragt sie noch, ob sie mal die Buchhaltungsunterlagen einsehen kann. Mein Leben geht sie überhaupt nichts an, schon gar nicht, was mir gefallen hat und was nicht. Warum ist sie gekommen? Was hofft sie hier zu finden? »Sehr gut«, sage ich knapp.
Sie stellt die Teetasse vorsichtig auf die Untertasse zurück. »Fein«, sagt sie. Ihre Augen füllen sich langsam wieder mit Tränen, sie wendet den Kopf ab. Lange schaut sie durchs Seitenfenster zum Hof von Ada und Wim hinüber. Dann seufzt sie tief und steht auf. Offenbar ist sie hier fertig.
Wir wollen gerade in den Opel Kadett steigen, als Ronald angerannt kommt, die erhobene Hand vorgestreckt wie einen Fußballpokal. »Wartet!« ruft er.
Wir warten.
»Ich wollte dir meine Hand zeigen«, sagt er, ohne Riet anzusehen.
»Dann laß mal sehen«, antworte ich.
»Du siehst sie doch?!«
»Aus der Nähe.«
Ronald streckt mir die Hand fast ins Gesicht. An der Seite unterhalb des kleinen Fingers ist die Haut hellrosa und gespannt.
»Tut’s noch weh?«
»Nöö«, sagt er, als ob er so etwas wie Schmerz gar nicht kennt. »Es ist kein Verband mehr drum, weil die Kälte guttut.«
»Hat deine Mutter das gesagt?«
»Ja.« Er wirft einen kurzen Blick an mir vorbei zur anderen Seite des Wagens, wo Riet wartet. »Wer ist das?« fragt er.
»Das ist Riet.«
»Wo kommt sie her?«
»Aus Brabant.«
»Brobent?«
»Brabant. Sehr weit weg.«
»Was will sie hier?«
»Frag sie ruhig, sie beißt nicht.«
Er schaut mich mit einem Hundeblick an.
»Ich bin früher mal sehr oft hier gewesen«, sagt Riet. »Und jetzt wollte ich noch mal vorbeischauen.«
»Ah«, sagt Ronald; er starrt auf meinen Bauch.
»Ich hatte den Bruder von Herrn van Wonderen heiraten wollen.«
»Von wem?«
»Das bin ich«, erkläre ich.
»Hast du einen Bruder?« fragt er verblüfft.
»Nein, nicht mehr.«
»Ah.«
»Aber jetzt fahre ich wieder nach Hause. Mit dem Zug.«
»Bringst du sie jetzt weg?«
»Ja«, antworte ich. »Zur Fähre in
Weitere Kostenlose Bücher