Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
es nichts mehr zu sehen, es ist dunkel. Was wird sie unterwegs tun? Lesen? Still dasitzen und nachdenken? Mit Leuten auf den Plätzen gegenüber reden? Ich weiß es nicht. Bevor ich den Motor anlasse, streiche ich mit der Hand über meine rechte Wange und betrachte danach meine Finger.Beim Melken lasse ich die Stirn öfter als sonst auf den warmen Kuhflanken ruhen, auch wenn das Melkzeug schon angehängt ist und die Milch in diesem beruhigenden Rhythmus zur Leitung gesaugt wird. Nie werde ich mit Kunststoffschürze in der weißgekachelten Melkgrube eines Melkstands stehen, in dem zehn oder zwölf Kühe gleichzeitig gemolken werden; hier wird es nie einen großen Liegeboxenstall geben, in dem man statt Stroh Sägemehl einstreut; hier werden immer die Schubstangen des Entmisters langsam hin und her pendeln, und der Misthaufen wird jeden Tag ein Stück höher werden, bis ich den Mist mit meinem klapprigen Dungwagen ausfahre; hier wird nie eine Frau Tag für Tag in der Küche hantieren oder ein paarmal in der Woche auf dem Grasstreifen beim Gemüsegarten die Wäsche auf die Leine hängen. Hier bin ich sicher, hier kann ich mich geborgen fühlen, wenn mein Kopf sich zu den Atemzügen der Kuh hebt und senkt. Aber leer ist es hier auch.
Ich denke an Stromdrähte, die sich unter dem Gewicht Hunderter von Schwalben durchbiegen. Mehlschwalben oder Rauchschwalben. Ich denke an Dänemark, aber zum ersten Mal nicht an Jarno Koper. Ich denke an einen Knecht, der in Dänemark die Schwalben gesehen hat.
»Gerümpel«, sagt Vater empört, als ich ihm nach dem Melken sein Essen bringe.
»Stimmt das etwa nicht?« frage ich und zeige auf die Standuhr, auf die Fotos an der Wand und auf ihn.
»Die Krähe sitzt wieder in der Esche.«
»Ich hab sie gesehen.«
»Wie war’s?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Das weißt du noch nicht?«
»Nein.«
»Was habt ihr im neuen Zimmerchen gemacht?«
»Geredet.«
»Über was?«
»War das nicht zu verstehen?«
»Nein.«
Es ist lange her, daß er so viele Fragen gestellt hat. Riets Besuch beschäftigt ihn, vielleicht hat er den ganzen Tag an früher gedacht. Ich sehe ihn vor mir, wie er mäuschenstill hier gelegen hat, wie er ausgeatmet hat, wenn wir vor seiner Tür sprachen, und die Ohren gespitzt, wenn weiter weg etwas gesagt wurde. Ist er einsam? Ich schüttle den Kopf, so etwas will ich nicht denken. Trotzdem, auf einmal empfinde ich den Tag im nachhinein als einen Wettkampf, bei dem einer der Spieler verdeckt geblieben ist; die van Wonderens gegen Riet.
Ich ziehe die Vorhänge zu. »Ach ja«, sage ich so beiläufig wie möglich, »du bist eingeäschert worden. Und die Asche ist verstreut worden.«
Darüber muß er lachen. »Ihr wart auf dem Friedhof«, gluckst er.
»Ja. Und da fehlte dein Name.« Habe ich ihm gegenüber schon jemals so einen Scherz gemacht? Ich starre das Motiv auf dem Vorhang an und kann mich an keinen erinnern.
Aus seinem Lachen wird Ernst. »Ich bin schmutzig.«
»Wir schauen bald mal.«
»Wo hast du meine Asche verstreut?«
»Was weiß ich, auf den Weiden, hinter dem Hühnerhaus, unter der Esche.«
Ich lasse die Vorhangfalten los und drehe mich um. Seine Augen sind feucht vom Lachen. Glaube ich. Ermüßte dringend mal rasiert werden. Der weiße Kissenbezug ist angegraut.
»Warum ist sie gekommen?«
»Darum.« Ich gehe zur Tür. Als ich das Licht ausmache, fällt mir eine bessere Antwort ein. »Nein«, sage ich, »nicht darum. Zu einem Bewerbungsgespräch.«
Lächelnd gehe ich die Treppe hinunter.
24
Ich bin der letzte van Wonderen. Natürlich gibt es noch viele andere, aber nicht in meinem Zweig. Auf der Sportseite der Zeitung bin ich ab und zu auf den Namen Kees van Wonderen gestoßen; ein Fußballer, ich glaube, bei Feyenoord. Einmal war auch ein Foto dabei. Ich fand, daß ich ihm ähnlich sah, obwohl er wahrscheinlich dreißig Jahre jünger war. Großvater van Wonderen hatte vier Schwestern. Die haben alle geheiratet und Kinder bekommen. Vater hat oder hatte ziemlich viele Tanten. Ich habe oder hatte genauso viele Großtanten und noch viel mehr Tanten und Onkel, die keine sind oder waren, und Vettern und Kusinen zweiten oder dritten Grades. Keiner von ihnen heißt van Wonderen. Ich kenne sie nicht. Vater war ein Einzelkind. Henk – der den Namen von Großvater van Wonderen trug – ist tot. Ich bin nicht verheiratet. Mit mir sterben wir aus.
Es regnet. Die zweite Frostperiode hat nicht sehr lange angehalten, und in der Zeitung habe ich von
Weitere Kostenlose Bücher