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Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Titel: Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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Amsterdam.«
    »Kommt sie noch mal wieder?«
    »Das weiß ich nicht. Kommst du noch mal wieder?«
    »Vielleicht«, sagt Riet. Sie steigt in den Wagen und macht die Tür zu.
    »Wir fahren jetzt«, sage ich zu Ronald.
    »Okay.« Er macht sich auf den Rückweg. Als er fast schon beim Damm ist, dreht er sich um. Jetzt wird er Teun nachahmen, das sehe ich ihm an. »Wo ist dein Vater?« schreit er.
    »Oben«, sage ich und zeige mit dem Finger in die Luft.
23
    »Oben«, sagt Riet, als wir vor der Frittenbude im Wagen sitzen.
    »Ja«, sage ich.
    »Herrlich, ein Kind zu sein.«
    »Ja.«
    »Er ist wohl noch nicht lange tot?«
    »Nein, nicht lange.«
    Wir warten schon geraume Zeit vor der Frittenbude. Die Sonne ist noch nicht untergegangen, aber es müßte jeden Augenblick soweit sein. Ich kann sie nicht sehen, sie hängt hinter dem Bahnhofsgebäude. An der Anlegestelle herrscht noch viel mehr Betrieb als heute morgen. Viele Leute sind auf dem Heimweg, in beiden Richtungen. Wenn die Fähren nicht fahren würden und auch keine Binnenschiffe und Rundfahrtboote, wäre das Wasser des IJ ganz still. In größerer Entfernung sehe ich hohe Gebäude an einer Stelle, an der in meiner Erinnerung nichts war. Sie macht mir angst, die andere Seite. Diese Seite weniger, weil ich genau weiß, wie ich fahren muß, um so schnell wie möglich wegzukommen. Riet macht keinerlei Anstalten auszusteigen. Die Tasche auf ihrem Schoß paßt eigentlich auch nicht zu Frauen ihres Alters. Ihre Art, sie mit beiden Händen zu umklammern, allerdings schon.
    »Mit Henk ist es nicht so einfach«, sagt Riet.
    Ist?
    »Er tut nichts. Schon seit einem halben Jahr hockt er zu Hause. Freunde hat er nicht.«
    Tut? Hockt? Hat?
    »Manchmal liegt er nur im Bett, und auf einmal ist er dann wieder verschwunden, und ich habe keine Ahnung, wo er steckt.«
    »Riet, wovon redest du?«
    »Henk.«
    »Von welchem Henk?«
    »Meinem Sohn.«
    »Heißt dein Sohn Henk?«
    »Ja. Wußtest du das nicht?«
    »Woher hätte ich das wissen sollen?«
    »Vor allem dieses Rumliegen finde ich fürchterlich.«
    »Henk? Du hast deinen Sohn Henk genannt?«
    »Wieso nicht?«
    »Was meinte dein Mann dazu?«
    »Nichts. Wien gefiel der Name. In seiner Familie gab es auch einen Henk. Kurz und markant, hat er gesagt.«
    Ein Radfahrer streift den Außenspiegel, dreht sich halb um und hebt zur Entschuldigung kurz die Hand.
    »Und nun hatte ich mir überlegt: Könnte er nicht für eine Weile zu dir kommen? Zum Arbeiten, meine ich.«
    Ist es das, was sie mich fragen wollte?
    »Zu mir?«
    »Ja. Du hast Tiere. Kühe, Schafe, Hühner. Ich glaube, Tiere wären gut für ihn. Und du bist ganz allein, vielleicht kannst du doch jemanden gebrauchen. Eine Art Knecht.«
    Eine Art Knecht. Sie hat vergessen, die Esel zu erwähnen.
    »Das würde ihm guttun. Arbeiten. Früh aufstehen, früh schlafen gehen, die Regelmäßigkeit. Frische Luft, obwohl er davon natürlich auch zu Hause genug hat.«
    »Na«, sage ich, »bei den vielen Schweinemastbetrieben . . .«
    »Das stimmt«, sagt Riet. »Hier riecht es besser.«
    »Was hält er selbst davon?«
    »Er weiß nichts davon.«
    »Wann hast du dir das überlegt?«
    »Ach, vor einem Monat etwa.«
    Nirgends ist jetzt noch ein Widerschein des Sonnenlichts zu sehen, nicht auf dem Wasser, nicht auf den Fensterscheiben der höheren Gebäude. Über dem Bahnhof färbt sich der Himmel orange, es wird schnell dunkel. Riet läßt ihre Tasche los, damit sie die Tür öffnen kann.
    »Denkst du mal drüber nach?« fragt sie.
    »Ja, sicher«, antworte ich.
    Sie blickt sich über ihre Schulter nach Fußgängern um und öffnet die Tür. Sie zögert. »Er hat sich mir völlig entzogen«, sagt sie. »Wenn er mich überhaupt mal eines Blickes würdigt, ist es, als ob ich eine Fremde für ihn wäre.« Sie beugt sich nach rechts, um auszusteigen. Kalte Luft kommt in den Wagen. Dann beugt sie sich nach links und küßt mich auf die Wange. »Danke«, sagt sie.

    Ich schaue ihr hinterher; sie zieht das eine Bein leicht nach. Als Ronald sie auf dem Umweg über mich verhörte, hatte ich gedacht, ich würde sie noch öfter sehen. Jetzt glaube ich, daß ich sie nie wiedersehen werde. Ohne sich noch einmal umzublicken, verschwindet sie zwischen den Fußgängern und Radfahrern. Gleich fährt sie übers Wasser und verschwindet im Gewühl der anderen Seite. Hunderte von Menschen, jeder mit einem anderen Reiseziel. Tausende von Menschen, die gleichzeitig in verschiedenen Zügen durchs Land fahren. Draußen gibt

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