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Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Titel: Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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Kirchenmauer, aber ich sehe mich auf der Schellingwouder Brücke stehen. Das kommt daher, daß ich mich vergessen fühle. Damals hatte ich mich auch vergessen gefühlt. Riet war die Beinahefrau, ich war nur der Bruder. Jetzt ist sie diejenige, die Erinnerungen auskramt und ihre Geschichte erzählt. Mich fragt sie nichts.
    Ich höre die Enten schnattern, die vorhin aus dem Wasser gesprungen sind; sie müssen auf der anderen Seite der Kirche sein, vielleicht vor dem geschlossenenTor. Im Sommer sitzen so viele Menschen im Gras unter den Pappeln – Radler aus Amsterdam, Kanufahrer, Gruppen von Kindern aus der Segelschule in Broek –, daß die Enten gar keine Angst mehr haben. Für ein Stück Brot tun sie alles. Ab und zu fährt ein Auto vorbei. Einmal scheint eins zu bremsen, beschleunigt dann aber wieder.
    »Kommst du oft her?« fragt Riet.
    »An den Geburtstagen und Todestagen. Viermal im Jahr.«
    »Ich hätte natürlich auch kommen können. Zuerst bin ich nicht gekommen, weil man mich weggeschickt hatte und weil ich immer dachte: Glaubt bloß nicht, daß ihr mich jemals wiederseht. Kindisch. Später bin ich nicht gekommen, weil ich Wien hatte und die Kinder, und weil ich nicht an die Zeit davor erinnert werden wollte. Ich wollte jemand anders werden.«
    »Man kann nie jemand anders werden.«
    »Natürlich kann man das.«
    Diesmal juckt der Ärger an meinen Schultern, es fehlt nicht viel, und ich scheuere mich wie ein altes, mottengeplagtes Schaf an der Kirchenmauer.
    Will sie etwas? Was will sie? Will sie, daß ich sie küsse? Soll ich so tun, als ob ich Henk wäre? Soll ich ihr sagen, daß sie immer noch eine hübsche Frau ist? Soll ich sie fragen, ob sie mich heiraten will? Will sie, daß ich ihr verzeihe?
    Sie ist immer noch eine hübsche Frau. Keine von den Hunderttausenden Frauen mittleren Alters, die alle in den gleichen Blusen und halblangen Hosen herumlaufen, das Haar chemisch in Form gehalten, die Rücken schon leicht gebeugt, Herbst im Blick. Im Sommer kann man sie neben ihren Männern am Hof vorbeifahren sehen, immer mit kleinen Schlenkern, auf soliden,guten, aber auch nicht allzu teuren Rädern. So verschieden ihre Blusen und Jäckchen auch sein mögen, es sind immer die gleichen Blusen und Jäckchen.
    Riet ist fast so groß wie ich, und ihr Gesicht ist eine etwas weichere, etwas tiefergerutschte Version ihres Mädchengesichts; ganz deutlich erkenne ich darin die junge Frau wieder, die ich vor so vielen Jahren in der Kneipe in Monnickendam gesehen habe, halb von Henk verdeckt. Die ich an dem Abend schon denken sah: Mein Gott, er hat einen Zwillingsbruder, da gibt es einen, der ist genau wie er, wie soll ich mich zu dem bloß verhalten? In den knapp anderthalb Jahren bis zu Henks Tod hat sie keine Antwort darauf gefunden. Sie hielt Abstand, ungeschickt und still, vermied es möglichst, mich anzusehen, sorgte dafür, daß wir kaum miteinander allein waren.
    Am 5. Dezember 1966 bekam ich von ihr ein kleines Geschenkpäckchen mit einem Gedicht; es war so nichtssagend, daß ich vor Selbstmitleid fast geheult hätte. Wie ein kleines Kind saß ich da mit dem Päckchen auf dem Schoß und konnte die Tränen kaum zurückhalten, als ich das Gedicht vorlas. Vater merkte etwas und setzte noch eins drauf – weil er Nikolaus ja so gemütlich findet. Er zwinkerte Riet übertrieben zu und sagte, ich wäre eben ganz anderes gewöhnt, »da unten in Amsterdam« würde ich Gedichte schreiben lernen, die nur aus schönen, schwierigen Wörtern bestünden. Er hat niemals irgend etwas begriffen. Riet blickte auf ihre Schuhe.
    »Allmählich wird mir kalt«, sagt sie.
    »Dann gehn wir nach Haus.«
    Sie schaut noch einmal auf den Grabstein. Jetzt sehe ich auf ihrem Gesicht die Frage ankommen, die ich schon längst erwartet hatte. »Wo liegt dein Vater eigentlich?«
    »Der ist eingeäschert worden.« Die Frostluft kühlt mein warmes Gesicht. »Und die Asche verstreut.«

    Vor dem Tor steht nur noch eine der Enten. Die andere ist totgefahren worden, der warme Körper auf der Straße dampft noch ein wenig. So geht das, gerade ist man noch springlebendig und wünscht sich ein Stück Brot, und im nächsten Augenblick ist man mausetot. Riet schaudert, als sie über den toten Erpel steigt. Ich schiebe ihn mit dem Schuh an den Straßenrand. Der übriggebliebene Erpel watschelt laut schnatternd zum Wasser. Als wir auf dem Rückweg an der Schule vorbeikommen, höre ich eine der Klassen singen. Ein gutes Dutzend Kindergesichter blickt mit

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