Oberwasser
Pfeiler. Und jetzt geschah etwas, das jeder schon einmal erlebt hat. Der ganze Tag war ruhig und ohne Vorkommnisse, aber dann, Punkt 17 . 23 Uhr, geschehen tausend Dinge gleichzeitig. Es schellt an der Türe, der lang erwartete Elektriker ist da. Doch gleichzeitig mit ihm steht auch noch der Nachbar an der Tür. Moment, ich komme gleich – denn jetzt klingelt, das erste Mal an diesem Tag, das Telefon: Es ist ein wichtiger Kunde mit einem wichtigen Auftrag. Der Elektriker zieht die Augenbrauen hoch: Soll ich ein anderes Mal – Der Nachbar ist pikiert, auf der anderen Telefonleitung ist ebenfalls ein Anruf eingegangen, der eines alten Freundes, den man unmöglich abwimmeln kann. Was hat diese Leute dazu getrieben, das alles genau um 17.23 Uhr zu machen? Der Elektriker murrt, der Nachbar ist beleidigt, der Kunde ist sauer, der alte Freund schimpft – und dann klingelt auch noch das Mobiltelefon. Er ist die Mutter, die einem unbedingt, jetzt gleich, unaufschiebbar, etwas Wichtiges mitzuteilen hat.
Fritz zerrte an der Leine. Er bellte und hechelte wie wild. So hatten ihn Ludwig Stengele und Maria Schmalfuß noch nie gesehen: Er musste irgendetwas Sensationelles gerochen haben. Gleichzeitig gab es in dem Bautrupp da vorn eine tumultuöse Szene. Drei der Arbeiter starrten mit schreckgeweiteten Augen in Richtung des verdeckten Ehepaares mit Hund. Sie ließen ihre Schaufeln fallen und starteten einen Sprint, so schnell und wendig, über Schubkarren und aufgestapelte Steine hinweg, dass es Stengele von vorneherein aufgab, sie zu verfolgen. Gleichzeitig kam ein behelmter Bauleiter von der Seite auf sie zu. Darf ich fragen, was Sie hier – Stengele griff schon nach dem Dienstausweis. Im selben Augenblick wurden beide Beamte von hinten grob angerempelt und fast zu Boden gestoßen. Ein Mann stürmte an ihnen vorbei und schrie den weglaufenden Arbeitern etwas nach. Auf Polnisch oder Russisch. Und der Pfeiler, mit dem die drei Bauarbeiter beschäftigt waren, stürzte ein. Die Verschalungen splitterten nach außen weg und schweres Gestein bröckelte nach unten. Dann klingelte auch noch Marias Mobiltelefon. Maria Schmalfuß blickte aufs Display. Es war ihre Mutter.
39 .
Es war einmal ein alter Mann, der allein in einem kleinen Boot im Golfstrom fischte, und er war jetzt vierundachtzig Tage hintereinander hinausgefahren, ohne einen Fisch zu fangen. Gut, es war nicht gerade der Golfstrom, es war ein kleiner Sturzbach in den Alpen, es waren weniger als vierundachtzig Tage, und es ging auch nicht um einen Riesenfisch, einen kubanischen Marlin, es ging eher um abstrakte Werte wie die geistige Durchdringung eines Wasserwirbels – aber Konrad Finger hatte ebenfalls einen Plan. Er wollte wie der alte Mann den ganz großen Fisch fangen.
Während Gisela gerade aus der trüben Brühe des ruhig dahintreibenden Mühlbachs gefischt wurde, stand Konrad Finger an einem wesentlich wilderen und reißenderen Wasser und blickte sehnsüchtig in die tosenden Wirbel. Nach seinem unfreiwilligen Bad in der Loisach und dem kurzen Krankenhausaufenthalt hatte er nicht etwa aufgegeben mit dem Kajakfahren. Ganz im Gegenteil. Er glaubte, dass allein in den Strudeln und Wirrwalzen des beweglichen Elements das Geheimnis der großen Strömungsformel zu finden war. Konnte man Aktienbewegungen berechnen? Eigentlich nicht, und wenn, dann mit vielen Fehlerquellen. Konnte man Stimmungsschwankungen in der Wirtschaft mathematisch vorhersagen? Nur ungenau, und wenn es darauf ankam, versagten die Zahlen. Konnte man Wasserwirbel messen? Eigentlich unmöglich. Aber: Man konnte sie alle spüren, die Hyperbeln und Akkumulationen bei liquiden Vorgängen. Man konnte den Verlauf der Kurven voraus
ahnen
– sein Physik-Professor in Stanford hatte das als
gearen
bezeichnet. Pah, Reynolds! Man musste nur eins werden mit den Elementen und Algorithmen, man musste ein Gearhead werden, der die CL /CX 2 F-Strömungen und dem geheimnisvollen Faktor ζ intuitiv begriff. Und natürlich war es auch ein Kick für ihn, da hinunterzufahren. Er hatte sich Simulationssoftware besorgt, er hatte alle möglichen Bücher studiert. Er hatte Wildwassertechniken bei sich zu Hause im Trockenen geübt, er hatte sich also gut vorbereitet auf den bevorstehenden Höllenritt. Er stand am Oberlauf des Flusses, ein paar hohe Felsen ragten auf und bildeten eine Schlucht, durch die sich das Wasser zwängte. Die Gischt spritzte ihm ins Gesicht, er bekam ein paar klatschnasse Ohrfeigen ab.
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