Oberwasser
fast riechen. Sie sah ihn vor sich, den steilen Pfad, der sich jetzt hinaufschlängelte in das unergründlich dichte Tannendickicht. Und schon mahnte eine Wandergruppe von vier frechen Klarinetten zum erneuten Aufstieg, eher zu einem Gewaltmarsch, zu einem Parforceritt, diesmal auf ein weitaus schrofferes Gebirge, auf einen unnahbaren, stolzen Doppelkegel, der sich da majestätisch aufrichtete mit einem klirrenden Bläserensemble aus Trompeten und Posaunen. Richard Strauss, der alte Schelm, hatte sich den Spaß erlaubt, auch in der Partitur das Bergpanorama nachzuzeichnen, dass er vom Balkon seiner Villa aus an klaren föhnigen Tagen sehen konnte:
Direkt vor Maria saß ein Paar, das die Köpfe zusammensteckte.
»Angerwiese?«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Freilich!«, gab sie zurück. »Im nächsten Satz geht es zur Neuneralm hinauf.«
»Und dann hinüber zum Eselskopf?«
»Psst!«, kam es von hinten, und die Köpfe fuhren wieder auseinander.
Maria gefiel diese Musik. Sie fand sie inspirierend. Sie dachte über den Stand der Ermittlungen nach. Der Schwung, den sie alle zu Beginn der komplizierten Untersuchungen vor vier Tagen aufgenommen hatten, durfte nicht erlahmen. Dafür fühlte sie sich verantwortlich. Die Stimmung in der Truppe war angespannt, die Gruppendynamik war etwas aus den Fugen geraten, und die Zeit drängte. Diesmal hatten sie nicht den Auftrag bekommen, einen Mord aufzuklären, sondern einen zu verhindern – ♫ WrrratatatataTAMM! Sie linste ins Programmheft:
Auf dem Gletscher
stand da, und sofort sah sie diesen Gletscher vor sich, sogar einen kleinen Ausrutscher, einen winzigen Fehltritt neben die Trittspur, ein bröckliges ♫ slittt! hatte der Meister mit hineinkomponiert. Sie war begeistert. Warum gab es keine Sinfonie, die den Polizeialltag ähnlich farbig schilderte? Erster Satz: Am Tatort (schauriges Gis-Dur). Zweiter Satz: Sektion in der Gerichtsmedizin (con cuore). Dritter Satz: Schleppende Ermittlungen (lentando). Vierter Satz: Eingebung des Kommissars (molto vivace). Fünfter Satz: Finale auf dem Galgenberg (presto, Aufknüpfen des Mörders unter begeistertem Hurra!-Rufen der zehntausendköpfigen Menge.) Aber vielleicht gab es so etwas ja.
»Schritte?«, flüsterte der Mann vor ihr.
»Eilige Schritte über eine sumpfige Wiese!«
»Eine kleine Herde Gemsen, die ein Abhang hinunter läuft?«
»Pssssscht!«
Maria Schmalfuß war natürlich nicht nur wegen der Kunst da. Nach dem misslungenen Auftritt auf der Baustelle konnte sie sich das gar nicht leisten. Stengele war fluchend nach Hause gegangen, sie jedoch hatte noch etwas zu erledigen. Sie hatte den Konzertbesuch mit einer ganz profanen Aktion verbunden. Der nur locker zugeschnürte Rucksack, der zu ihren Füßen stand, zitterte leicht. Fritz atmete heftig, aber geräuschlos, vielleicht schlief er, er verhielt sich jedenfalls ruhig. Es gab sozusagen einen stummgeschalteten Fritz. Vor dem Konzert hatten sie sich den Kurpark vorgenommen, der an das Ortszentrum angrenzte, jetzt gönnten sie sich eine kleine, kulturell gefärbte Pause. Maria blickte dezent auf die Uhr. In anderthalb Stunden begann die Nachtbesprechung. So schön die Musik dort oben auch war – sie hatte vor, das Konzert in der Pause zu verlassen, mit Fritz noch ein bisschen in der Umgebung herumzustreifen und dann zum Revier zurückzukehren. Vorsichtig beugte sie sich zu ihrer Nachbarin.
»Entschuldigung«, flüsterte sie. »Nach welchem Abschnitt ist Pause?«
»In der Alpensinfonie gibt es keine Pause«, flüsterte diese zurück.
»Und wie lange dauert das Stück?«
»Psst!«, zischte der Zischler, und alle hörten es, denn Richard Strauss hatte hier eine furchtbar leise Stelle hinkomponiert.
Sollte sie einfach aufstehen und das Konzert mittendrin verlassen? Nur um pünktlich zur Besprechung kommen? Sie beschloss, das Ende des Stücks abzuwarten. Man kannte sie im Ort.
Polizeipsychologin stört Alpensinfonie!
– das sollte nicht die morgige Schlagzeile in der örtlichen Presse werden. Leise zog sie ihr Mobiltelefon aus dem Rucksack, um eine SMS abzusetzen. Fritz rührte sich nicht.
Komme später
, tippte sie. So langsam und leise sie das auch tat, ihre Nachbarin hatte es bemerkt und warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu: Rucksacktouristin! Auch egal. Maria entspannte sich wieder, doch sie konnte sich nicht mehr so recht auf die Musik konzentrieren, ihre Gedanken schweiften immer wieder ab zu den laufenden Ermittlungen. Adrian Dombrowski,
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