Oberwasser
versuchen.
Konrad Finger hatte nicht bemerkt, dass ihn jemand beobachtet hatte. Es war eine ganz in Schwarz gekleidete Figur, die weiter oben, gute zweihundert Meter entfernt stand. Sie war muskulös, sie hob sich gegen den immer dunkler werdenden Abendhimmel ab. Die Figur war bestückt mit einem AK - 47 -Sturmgewehr, und das Gewehr hatte ein Zielfernrohr. Aber Finger hatte natürlich nur Augen für sein Experiment gehabt. Dem Wanderer ist alles Weg. Dem Flößer ist alles Floß.
»Hier schnüffelt einer rum, Arri«, sagte die Figur zu einer zweiten, die dazugetreten war.
»Das darf doch nicht wahr sein!«
»Erst dachte ich, es ist ein Spinner, der seinen endgültigen Abgang hier durchführen will. Wäre schlimm genug.«
»Aber dann? Komm, red schon, Nadja.«
»Dann hat er Videokameras aufgestellt. Ich dachte, ich sehe nicht recht. Ich habe ihn dauernd mit dem Zielfernrohr im Visier gehabt. Er ist dann ein paar Meter gefahren, hat alles eingepackt und ist abgehauen. Soll ich ihn –«
»Nein, warte. Könnte es einer vom BKA sein?«
»Unmöglich, Arri.«
»Wir müssen ihn im Auge behalten. Wir können es uns nicht leisten, dass so ein Idiot alles auffliegen lässt. – Was ist mit den Aufnahmen?«
»Ich habe die Kameras zerstört.«
»Wenn er weitermacht, müssen wir ihn ausschalten. Solche Komplikationen kann ich momentan überhaupt nicht brauchen. Ich muss jetzt los. Gleich ist eine wichtige Übergabe. Wir machen sie diesmal nicht im Andenkenladen, der Kunde wünscht einen anderen Ort. Die Aktion darf auf keinen Fall gestört werden.«
Arri wählte eine Nummer auf seinem Mobiltelefon, und er sprach etwas hinein, in einer babylonisch anmutenen Mischsprache. Im ersten Augenblick hätte man auf Russisch getippt, weil Begriffe wie
sanschtsch
fielen. Aber es war nicht Russisch. Konrad Finger war ins Fadenkreuz einer internationalen Verbrecherbande geraten, die wissen wollte, wer in der Nähe ihres Verstecks herumschnüffelte. Es war eine Organisation, gegen die die italienische Mafia eine Event-Agentur für Kindergeburtstage war.
40 .
Frau Dr. Schmalfuß saß in der vierzehnten Reihe. Sie hatte ihren großen Rucksack auf den Boden gestellt und das Programmheft auf den Schoß gelegt. Das spätabendliche Konzert hatte bereits begonnen. Stahlklingende Posaunen blökten, samtige Celli schluchzten auf, Geigen wuselten, sie machten sich über das Hauptthema her wie Ameisen über ein fallengelassenes Honigbrot. ♫ Ridldildldldl! Das Orchester spielte die
Alpensinfonie
von Richard Strauss, die als musikalische Schilderung einer schweißtreibenden Bergtour galt, mit Stationen wie
Nacht, Sonnenaufgang
und
Der Anstieg
. Das Freilichtkonzert war ausverkauft bis auf den letzten Platz, die Zuhörer waren sichtlich ergriffen von dem wuchtigen Werk, das wegen der übergroßen Orchesterbesetzung äußerst selten gespielt wurde. Vorgeschrieben waren eine Wind- sowie eine Donnermaschine, Kuhglockengeläute – und ein zusätzliches Fernorchester hinter der Bühne. Doch bei den jährlich stattfindenden Richard-Strauss-Tagen im Kurort ließ man sich natürlich nicht lumpen. Es gab Zuschüsse, es gab Sponsoren, es gab Gönner. Gut, es war nicht gerade Bayreuth, aber man tat auch in der zweiten kulturellen Bundesliga, was man konnte. Richard Strauss war ein großer Sohn der Marktgemeinde gewesen, er hatte jahrzehntelang im Kurort gelebt, in einer noblen Villa mit unverschämt sauber gepflegtem Garten. Der damals weltberühmte Komponist hatte sich (wie jetzt das Ehepaar Grasegger) am Fuße des Kramerberges niedergelassen, und der unverstellte Blick auf die Alpspitze und die beiden Waxensteine hatte ihn wohl zu der Alpensinfonie angeregt. Zwischen den einzelnen Episoden gab es fünfhundertfaches Programmheft-Geraschel im Publikum. Man wollte es genau wissen. Man wollte nicht den
Eintritt in den Wald
mit der
Wanderung neben dem Bache
verwechselt haben. Maria hingegen lehnte sich entspannt zurück. Es war das erste Mal, dass sie diese Sinfonie hörte, sie wollte die Klänge einfach nur auf sich wirken lassen. Musikgestütztes Brainstorming. Die Geigen rasten gerade einen unwegsamen Steilhang hinauf, kaum oben angekommen, ging es in atemberaubenden Tempo wieder hinunter. ♫ rrrrrrrrsirr?! Dann eine schier unhörbar leise Stelle, mit einer einsamen, nachtigallenen Piccoloflöte, die sich über den summenden Geigenteppich emporhob. Maria konnte den Wald, das feuchte Moos, die aufschießenden, würzig riechenden Pfifferlinge
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