Oberwasser
Heftige Güsse und Wasserkaskaden durchdrangen seine Outdoor-Kleidung und durchnässten ihn bis auf die Haut, doch das spornte Finger eher an. Heute noch eine Generalprobe – und bald würde er diese Schlucht mit seinem Wildwasserkajak hinunterfahren. Das war natürlich streng verboten. Das heißt: Es war nicht einmal verboten, aber es verstand sich von selbst. Es war ja auch nicht verboten, in die Steckdose zu greifen. Vor einer Woche hatte er mit den Planungen begonnen. Ein erstes Hindernis stellten die vielen Spaziergänger auf dem befestigten Uferweg dar, er wollte die Abfahrt nicht unter den Augen von unsportlichen Ui-guck-mal-Banausen durchführen. Fingers Idee war es, eine mondbeschienene Nachtabfahrt zu wagen. Er hatte schon vor längerer Zeit ein kleines funkgesteuertes Modell eines Wildwasserkajaks gebaut, ein unbemanntes Mini-Kajak, das Ähnlichkeit mit einem plumpen Kinderspielzeug hatte. Er hatte es oben in ruhiges Flachwasser gesetzt, war nach unten gespurtet und hatte es dann oben losstarten lassen. Er hatte eine geschlagene Stunde gewartet, vergeblich. Er hatte den ganzen Wasserlauf abgesucht, ob das suppentellergroße Modell irgendwo hängengeblieben war. Er fand es nicht mehr, es musste an einem Felsen zerschellt und gesunken sein. Was war dem Ding zum Verhängnis geworden? Eine Reynolds-Schleife? Es gab auf diesen paar hundert Metern Dutzende von Reynolds-Schleifen, Harkowikkov-Wirbeln und andere Wasserwalzen – das war ja gerade das Anziehende an dieser Strecke. Konrad Finger setzte ein weiteres Modellboot aus – es verschwand wieder in den Fluten. Vielleicht lag es ja an der geringen Größe. Es ging so nicht. Er musste die Abfahrt selbst machen, Stück für Stück, militärisch etappenweise, nur so konnte er die Strecke erkunden. Darüber hinaus wollte er seine Fahrt genauestens dokumentieren. Er war im Bahnhofsviertel in ein Geschäft gegangen und hatte sich dort zwei Videokameras mit wasserdichtem Gehäuse gekauft. Er hatte Geräte bekommen, die auch für militärische Zwecke eingesetzt wurden. Ob er noch ein Springmesser haben wollte? Ein Nachtsichtgerät? Eine Schulterstütze für allerlei dubiose Schießprügel? Eine Eierhandgranate? Finger hatte verneint. Jetzt positionierte er die zwei Kameras am Ufer.
Er setzte sich in sein Wildwasserkajak und fuhr los. Das erste Teilstück hatte lediglich eine Länge von fünfunddreißig oder vierzig Metern – aber die hatten es in sich. Er hatte sich mit einer Leine an einem großen Felsbrocken gesichert, um notfalls wieder herauszukommen aus den brodelnden Stromschnellen. Das nächste Mal wollte er natürlich frei hinunterfahren, aber jetzt riss ihn gleich nach den ersten zehn Metern ein steiler Niagara nach unten. So schnell er unten war, so schnell wurde er wieder hochgeschleudert, direkt auf einen Felsen zu. Sein Spezialboot, sein mehrfach verstärktes Abenteuerkanu, sechs Monatslöhne in Signalgelb, knallte auf rauzackige Felsen, und das Geräusch war schrecklich anzuhören. Polyethylen meets Kalk, und das Polyethylen gewann mit Ach und Krach. Eine Sekunde schwebte er mit seinem Kajak halb in der Luft, halb lag er immer noch auf dem Stein. Durch eine geschickte Körperdrehung kam er wieder ins Wasser. Und zwei Kameras filmten ihn aus verschiedenen Perspektiven! Finger juchzte auf. Das würde eine Präsentation geben! Einem Mann, der so etwas wagte, dem glaubte man alles. Jetzt eine Drehung. Ein sich überschlagender Strudel riss ihn gefühlte hundert Meter ins Tal, in Wirklichkeit war es bloß ein halber, und gleich kam der Gegenstrudel. Hier war überhaupt kein Steuern und Wenden mehr möglich, es lief nichts so wie im Lehrbuch, hier musste man sich treiben lassen. Man musste ein Gearhead sein. Nach eineinhalb Minuten war die Fahrt zu Ende, und diesmal hatte es keine Zwischenfälle gegeben. Kein Fahrrad, kein Treibholz, kein zerschmetterter Konrad Finger an der harten Uferböschung. Überglücklich stieg er aus dem Boot. Als er zu den Steinen kam, auf die er die Kameras gelegt hatte, bemerkte er, dass sie nicht mehr da waren: Sie waren sicherlich von Treibholz getroffen und in die Fluten gerissen worden. Mist, dachte er, bei nächsten Mal musste er sie höher legen und besser sichern. Er packte sein Viersterne-Kajak zusammen, löste das Sicherungsseil und machte sich an den Abstieg. Er musste morgen in die Stadt fahren und sich nochmals Kameras kaufen. Und abends würde er die Fahrt auf der Teilstrecke gleich nochmals
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