Oberwasser
langweile, komme ich gleich zum Ergebnis: Sie holen mit der Faust aus und schlagen zu. Der Witz ist der: Nicht Sie bestimmen, wann und wo und wen Sie schlagen, sondern ich. Ich werde Ihnen das Areal im Gehirn zeigen, das für diese Abläufe zuständig ist –«
Er deutete nicht etwa auf meinen Schädel, er schob einen Rollstuhl in mein Sichtfeld. Darauf saß ein Mann, dem die obere Hälfte der Schädelplatte schon abgenommen worden war. Der Spender! Seine Augen waren geöffnet, er schien mich anzustarren. Ob der Mann noch bei Bewusstsein war, konnte ich nicht erkennen. Das freiliegende Gehirn schien unverletzt zu sein, aber ich bin natürlich auch kein Mediziner. Der Weißkittel stach nun –
Er klappte das Tagebuch zu. Hatte es überhaupt einen Sinn, weiter Aufzeichnungen zu machen? Er war nun schon zwei Tage hier, er machte sich keine großen Hoffnungen, gerettet zu werden. Sie wollten ihn hier verrecken lassen, da war er sich sicher. Er musste nach einer Fluchtmöglichkeit suchen. Gestern Abend hatte er es endlich gewagt, sich an die Schläfen zu fassen, um nach Operationsnarben zu suchen. Geschockt hatte er die Hand zurückgezogen. Rund um das obere Drittel seines geschorenen Schädels ertastete er eine fingerbreite Wölbung nach außen. Er atmete tief durch und untersuchte die Stelle genauer. Das war keine Schwellung, die er da spürte, es war ein Pflaster. Er beschloss, das Pflaster noch einen Tag an Ort und Stelle zu lassen. Irgendwann würde er es abziehen. Dann erst konnte er Gewissheit darüber haben, ob er nun operiert worden war oder nicht. Doch das vordringlichste Problem war sein quälender Hunger, der ihn schwächte und apathisch machte. Die Hungerattacken kamen in unregelmäßigen starken Schüben, er war machtlos gegen sie. In den Taschen und Rucksäcken, die er durchsucht hatte, war natürlich nichts Essbares zu finden gewesen. Wie auch: Nur feste Gegenstände hatten sich über die Zeit gehalten, der Proviant, den die Soldaten im Gepäck aufbewahrt hatten, war sicherlich längst zerfallen.
Ich habe ein kleines Feuer entzündet, das nicht ausgehen darf. Holz ist zwar genug da, es ist Treibholz, das vom Wasser her angeschwemmt wird. Es liegt massenweise am Rand der Höhle. Das Brennmaterial ist nicht das Problem, ich habe jedoch nur noch dreißig Streichhölzer. Inzwischen habe ich alle Tornister mehrmals durchsucht. Keine Streichhölzer, nichts Essbares. Sehr witzig: Viel Kochgeschirr, Teller, Tassen, Besteck. Vollkommen zerschlissene und halb zerfallene Kleidungsstücke. Hemden, Hosen, Mäntel. Wenn es noch kälter wird, kann ich diese Lumpen vielleicht brauchen.
Er war schon ziemlich geübt darin, im Dunkeln zu schreiben. Es kam ihm auch gar nicht mehr darauf an, ein Tagebuch zu führen und Nachrichten zu hinterlassen. Er konnte seine Gedanken einfach besser ordnen, wenn er sie notierte. Auf diese Weise war es leichter für ihn, die ausweglose Situation zu ertragen. Sein Notizbuch war schon fast vollgeschrieben. Bei der Durchsuchung der Tornister hatte er unter anderem nach beschreibbaren Materialien gesucht. Er hatte natürlich keine Ringblöcke mit bunten Kugelschreibern erwartet, aber vielleicht ein paar Briefe oder einzelne Zettel. Umso größer war seine Freude, als er in einem der Rucksäcke ein kleines Büchlein gefunden hatte.
Fester, dunkelbrauner, stockfleckiger Einband. Altertümliche Frakturschrift, kaum lesbar. Ein Roman eines deutschen Schriftstellers, den ich nicht kenne. Der Besitzer muss wohl ein Literaturliebhaber gewesen sein. Bei einem Soldaten hätte ich eine zerlesene und zerfledderte Taschenbuchausgabe erwartet. Es ist jedoch eine bibliophile Kostbarkeit, vorne ist das Erscheinungsjahr abgedruckt: 1895 . Ein handschriftlicher Eintrag in alter deutscher Schrift: Von Philomena für Johannes. Und möge … Den Rest kann ich beim besten Willen nicht entziffern.
Warum hatte ein einfacher Soldat ein solches Buch bei einem Manöver dabei? Er war sich inzwischen ziemlich sicher, dass es ein Trupp Soldaten war, der hier lag. Waffen, Erkennungszeichen und Wertgegenstände hatte man ihnen abgenommen, das alles war vielleicht Plünderern in die Hände gefallen. Einem der Skelette war die Schädeldecke abgenommen worden, er konnte das fehlende Teil nirgends finden. An den restlichen Knochen waren keine sichtbaren Verletzungen zu entdecken.
Aber ich bin natürlich auch kein Mediziner. In der Innentasche eines Militärmantels mit abgetrennten Knöpfen habe ich ein zweites Buch
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