Oblomow
Schläfrigkeit plötzlich vorüberging und wie seine Augen sich vor Verwunderung öffneten.
»Notwendig?« wiederholte er langsam, seinen erstaunten Blick auf ihren Rücken richtend. Doch er sah darauf nur die beiden Quasten ihrer Mantille.
Was bedeuten dann diese Tränen und Vorwürfe? Ist denn das eine List? Aber Oljga war nicht listig; das sah er deutlich. Nur mehr oder weniger beschränkte Frauen wenden solche Mittel an. Sie arbeiten in Ermangelung eines geraden Verstandes mit den Triebfedern des alltäglichen, kleinlichen Lebens, sie häkeln mit Zuhilfenahme von List ihre häusliche Politik wie Spitzen, ohne zu bemerken, welche Richtung um sie herum die Hauptlinien des Lebens verfolgen, wohin sie sich wenden und wo sie sich kreuzen. Die List ist dasselbe wie kleine Münze, für die man sich nicht viel kaufen kann. Ebenso wie diese ausreicht, um eine oder zwei Stunden zu leben, so kann man auch mit der List hier etwas vertuschen, dort betrügen und ändern; sie reicht aber nicht aus, um einen ganzen Horizont zu überblicken und den Anfang und das Ende der großen Hauptereignisse zu verbinden. Die List ist kurzsichtig; sie sieht nur das gut, was dicht vor ihrer Nase ist, sie schaut aber nicht in die Ferne und kommt dadurch oft in dieselbe Falle, die sie anderen aufgestellt hat. Oljga ist einfach klug; zum Beispiel wie einfach und leicht sie die heutige Frage gelöst hat, und sie hätte auch jede andere gelöst! Sie sieht gleich den Sinn des verborgenen Ereignisses und schreitet auf geradem Wege darauf zu. Und die List ist wie eine Maus; sie läuft ringsherum und versteckt sich ... Auch ist Oljgas Charakter ganz anders. Was ist denn das? Was hat sie?
»Warum ist denn dieser Brief notwendig?« fragte er.
»Warum?« wiederholte sie und wandte ihm rasch ihr fröhliches Gesicht zu, sich darüber freuend, daß sie ihn auf jedem Schritt stutzig zu machen verstand. »Darum,« begann sie dann langsam, »weil Sie die ganze Nacht nicht geschlafen haben und nur für mich geschrieben haben – ich bin auch eine Egoistin. Das erstens ...«
»Warum haben Sie mir soeben Vorwürfe gemacht, wenn Sie jetzt selbst mit mir einverstanden sind?« unterbrach Oblomow sie.
»Weil Sie das Quälen ersonnen haben. Ich hab' es nicht ausgedacht, es ist über mich gekommen, und ich freue mich darüber, daß es vorüber ist. Sie haben es aber vorbereitet und im vorhinein genossen. Sie sind boshaft, deswegen habe ich Ihnen Vorwürfe gemacht. Dann ... ist Ihr Brief von Gedanken und Gefühlen durchdrungen ... Sie haben diese Nacht nicht auf Ihre gewohnte Art, sondern so, wie Ihr Freund und ich es gewünscht hätten, verlebt – das ist zweitens; und endlich drittens ...«
Sie trat an ihn so nahe heran, daß ihm das Blut ins Herz und in den Kopf stieg; er begann schwer und erregt zu atmen. Und sie blickte ihm gerade in die Augen.
»Drittens, weil in diesem Brief wie in einem Spiegel Ihre ganze Zärtlichkeit, Ihre Vorsicht, Ihre Sorge um mich, Ihre Furcht für mein Glück, Ihr reines Gewissen zu sehen sind ... Alles, was Andrej Iwanowitsch mir von Ihnen gezeigt hat, und was ich liebgewonnen habe, um dessentwillen ich Ihre Trägheit und Apathie vergesse ... Sie haben sich da gegen Ihr Wollen ausgesprochen, Sie sind kein Egoist, Ilja Iljitsch, Sie haben gar nicht deswegen geschrieben, um sich von mir zu trennen – das wollten Sie gar nicht, sondern weil Sie mich zu betrügen fürchteten ... Ihre Ehrlichkeit hat darin gesprochen, sonst hätte der Brief mich gekränkt, und ich würde nicht vor Stolz geweint haben. Sehen Sie, ich weiß, wofür ich Sie liebe, und fürchte mich vor keinem Irrtum; ich habe mich in Ihnen nicht geirrt ...«
Sie erschien Oblomow, während sie das sagte, in einem Glanz und Leuchten. Ihre Augen flammten im Triumph der Liebe und dem Bewußtsein ihrer Macht auf; auf den Wangen blühten die beiden rosigen Flecken. Und er, er war die Ursache all dessen! Er hatte durch eine einzige Regung seines ehrlichen Herzens dieses Feuer, dieses Sprühen und Leuchten in ihrer Seele entzündet.
»Oljga! Sie sind ... die beste der Frauen, Sie sind die bedeutendste Frau der Welt!« sagte er entzückt, breitete die Arme aus und beugte sich hingerissen zu ihr hin.
»Um Gottes willen ... einen einzigen Kuß, als Pfand des unbeschreiblichen Glückes ...« flüsterte er wie im Fieber.
Sie trat augenblicklich um einen Schritt zurück; das feierliche Leuchten und die Farben verschwanden von ihrem Gesicht; die sanften Augen schleuderten
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