Oblomow
unmoralisch ist ...
So lernte sie lieben, prüfte dieses Gefühl, begegnete jedem neuen Schritt mit einer Träne oder einem Lächeln und grübelte darüber nach. Jener nach innen gekehrte Ausdruck, unter dem sich Tränen und ein Lächeln verbargen und das Oblomow so erschreckte, war erst später erschienen. Doch sie deutete ihm gegenüber niemals auf diese Gedanken und diesen Kampf hin. Oblomow lernte nicht lieben, sondern versenkte sich in jenen süßen Schlummer, von dem er in der Anwesenheit von Stolz laut geträumt hatte. Manchmal begann er wieder an ein ewig wolkenloses Leben zu glauben und sah wieder Oblomowka mit gutmütigen, freundschaftlichen und sorglosen Gesichtern vor sich, ihm schwebte das Sitzen auf der Terrasse und das Sinnen aus der Fülle des Glücks heraus vor. Er gab sich auch jetzt manchmal diesem Sinnen hin und schlief sogar zweimal heimlich im Wald ein, wenn Oljga sich verspätet hatte ... als auf ihn plötzlich eine Wolke sich herabsenkte.
Eines Tages kehrten sie beide träge und schweigsam von irgendwo zurück, und als sie die Landstraße durchquerten, schwebte ihnen eine Staubwolke entgegen, und in dieser Wolke erschien ein Wagen, in dem Sonitschka mit ihrem Mann, mit noch einem Herrn und einer Dame saß ...
»Oljga! Oljga! Oljga Sjergejewna!« ertönte es.
Der Wagen blieb stehen. Alle diese Herren und Damen stiegen aus, umringten Oljga, begannen zu begrüßen, zu küssen und alle auf einmal zu sprechen, ohne Oblomow zu beachten. Dann blickten ihn plötzlich alle auf einmal an, ein Herr nahm sogar ein Lorgnon zu Hilfe.
»Wer ist das?« fragte Sonitschka leise.
»Ilja Iljitsch Oblomow!« stellte Oljga ihn vor.
Alle gingen zu Fuß nach dem Landhaus. Oblomow fühlte sich unbehaglich; er blieb zurück und setzte sogar seinen Fuß über den Zaun, um sich durch das Korn nach Hause zu schleichen. Oljga hielt ihn durch einen Blick zurück. Das alles hätte nicht viel geschadet, doch alle diese Herren und Damen blickten ihn so seltsam an; auch das hätte vielleicht nichts geschadet. Er war es von früher her dank seinem schläfrigen, gelangweilten Blick und seiner nachlässigen Kleidung gar nicht anders gewöhnt. Doch die Herren und Damen richteten denselben sonderbaren Blick auch auf Oljga. Dieser auf sie gerichtete Blick machte plötzlich sein Herz erstarren; etwas begann an ihm so schmerzlich und qualvoll zu nagen, daß er es nicht ertragen konnte und düster und sinnend nach Hause ging. Am nächsten Tag konnte ihn Oljgas anmutiges Geplauder und ihr zärtliches Necken nicht fröhlicher stimmen. Um ihrem beharrlichen Fragen ein Ende zu machen, mußte er Kopfweh vorschützen und sich geduldig für fünfundsiebzig Kopeken Eau de Cologne auf den Kopf schütten lassen. Außerdem hatte sie die Tante am dritten Tag, nachdem sie spät nach Hause zurückgekehrt waren, so sonderbar klug angeblickt, besonders ihn, dann hatte sie ihre großen, ein wenig geschwollenen Lider gesenkt, durch welche die Augen durchzublicken schienen, und hatte nachdenklich an ihrem Fläschchen gerochen. Oblomow quälte sich, schwieg aber. Er konnte sich nicht entschließen, Oljga seine Zweifel mitzuteilen, da er sie aufzuregen und zu erschrecken fürchtete, und um aufrichtig zu sein, fürchtete er sich auch seiner selbst wegen und wollte diese ruhige, wolkenlose Welt nicht durch eine so überaus wichtige Frage in Aufruhr bringen. Jetzt handelte es sich nicht mehr darum, ob ihre Liebe zu ihm ein Irrtum war, sondern ob ihre ganze beiderseitige Liebe, diese Rendezvous allein im Walde, manchmal spät in der Nacht, nicht ein Fehler waren? Ich habe einen Kuß verlangt, dachte er entsetzt; und das ist ja nach dem Kodex der Moral kein unbedeutendes, verzeihliches Vergehen, sondern ein Kriminalverbrechen! Es gehen ihm ja viele Stufen voran: der Händedruck, das Geständnis, der Brief ... Wir haben das alles durchgemacht. Und doch, dachte er weiter, seinen Kopf hebend, sind meine Absichten ehrlich, ich ... Und plötzlich verschwand die Wolke; vor ihm lag Oblomowka, hell wie ein Feiertag, voller Glanz und Sonnenstrahlen, mit den grünen Hügeln und dem silbernen Fluß; er schritt mit Oljga sinnend durch die lange Allee, indem er sie umfaßt hielt, er saß mit ihr in der Laube auf der Terrasse ... Um sie herum neigten alle voller Anbetung das Haupt – er sah mit einem Wort alles das, was er Stolz gesagt hatte. Ja, ja; aber damit hätte ich ja beginnen sollen! dachte er wieder erschrocken; das dreifache »ich liebe,« der Fliederzweig,
Weitere Kostenlose Bücher