Oblomow
»störe mich nicht, ich muß mich ausweinen ... Die Hitze wird mit den Tränen vergehen, es wird mir dann leichter sein; es sind nur die Nerven ...« Er hörte im Dunkel, wie schwer sie atmete, fühlte, wie ihre heißen Tränen auf seine Hand tropften, wie krampfhaft sie seinen Arm zusammenpreßte. Er bewegte keinen Finger und atmete nicht. Und ihr Kopf lag auf seiner Schulter, ihr Atem wehte seine Wange heiß an ... Er begann auch zu zittern, wagte es aber nicht, ihre Wange mit den Lippen zu berühren. Dann wurde sie immer ruhiger, und ihr Atem ging gleichmäßiger ... Sie schwieg. Er dachte, sie wäre eingeschlafen, und hatte Angst, sich zu rühren. »Oljga!« rief er flüsternd. »Was?« antwortete sie auch flüsternd und seufzte laut. »Jetzt ist's ... vorüber ...« sagte sie ermattet, »mir ist leichter, ich atme frei.« – »Komm,« sagte er. »Komm,« wiederholte sie ungern. »Mein Lieber!« flüsterte sie dann zärtlich, seine Hand umfassend, und ging, sich auf seine Schulter stützend, mit unsicheren Schritten nach Hause. Im Salon blickte er sie an; sie war schwach, doch sie lächelte seltsam, wie bewußtlos, gleichsam unter dem Einfluß eines Traumes. Er setzte sie auf den Diwan, kniete vor ihr nieder und küßte ihr ein paarmal, von tiefer Rührung erfüllt, die Hand. Sie blickte ihn noch immer mit demselben Lächeln an, indem sie ihm beide Hände überließ, und folgte ihm bis zur Tür mit den Augen. Er wandte sich an der Tür um; sie blickte ihm noch immer nach, ihr Gesicht war noch von derselben Ermattung und demselben heißen Lächeln erfüllt, als könnte sie es nicht bekämpfen ... Er ging sinnend fort. Er hatte dieses Lächeln irgendwo gesehen; er erinnerte sich an ein Bild, auf dem eine Frau mit einem solchen Lächeln dargestellt war ... das war aber keine Cordelia ...
Am nächsten Tag ließ er anfragen, wie es ihr ging. Man schickte ihm folgende Antwort: »Es geht dem Fräulein, Gott sei Dank, gut, man bittet Sie, heute zum Essen zu kommen, und abends fahren alle fünf Werst weit zu einem Feuerwerk.«
Er glaubte nicht und ging selbst hin. Oljga war frisch wie eine Blume; ihre Augen glänzten voll Lebenslust, die Wangen waren rot, die Stimme klang hell! Doch sie wurde plötzlich verlegen und hätte fast aufgeschrien, als Oblomow auf sie zukam, sie wurde feuerrot, als er fragte, wie sie sich nach gestern fühle. »Es war eine kleine Nervenstörung,« sagte sie eilig. » Ma tante sagt, daß ich früher schlafen gehen muß. Ich habe das erst seit kurzer Zeit ...«
Sie sprach nicht zu Ende und wandte sich ab, als bäte sie um Schonung. Sie wußte selbst nicht, warum sie so verlegen wurde. Warum nagte und sengte sie die Erinnerung an den gestrigen Abend, an diese Störung? Sie schämte sich und ärgerte sich, teilweise über sich selbst und teilweise über Oblomow. Und manchmal schien es ihr, daß Oblomow ihr teurer war als je, daß es sie zu ihm hinzog, daß ihr die Tränen kamen, als wäre er ihr seit dem gestrigen Abend auf eine geheimnisvolle Weise nähergerückt ...
Sie schlief lange nicht; des Morgens ging sie aufgeregt allein durch die Allee vom Haus bis zum Park und wieder zurück, dachte unaufhörlich nach, verlor sich in Vermutungen, machte ein finsteres Gesicht, flammte dann auf und lächelte über etwas und konnte zu keinem Entschluß kommen. Ach, Sonitschka! dachte sie ärgerlich, wie glücklich sie ist! Sie würde sich gleich entschlossen haben! Und Oblomow? Warum war er gestern mit ihr so stumm und reglos, trotzdem ihr Atem seine Wangen wie Feuer berührte, trotzdem ihre Tränen auf seine Hand tropften und er sie in seinem Arm nach Hause fast trug, während er das indiskrete Flüstern ihres Herzens hörte ... Und ein anderer an seiner Stelle ...
Obwohl Oblomow seine Jugend im Kreise von allwissenden jungen Leuten, die alle Lebensfragen längst gelöst hatten, an nichts glaubten und alles kalt und weise analysierten, verbracht hatte, glühte in seiner Seele doch noch der Glaube an die Freundschaft, an die Liebe, an die menschliche Würde, und soviel er sich in den Menschen auch geirrt hatte, soviel er sich noch irren würde, litt darunter nur sein Gefühl, doch das Gute und der Glaube daran hatte noch nie in ihm gewankt. Er betete im stillen die Reinheit des Weibes an, erkannte ihre Macht und ihre Rechte und brachte ihr Opfer. Doch es mangelte ihm an Charakterstärke, das Gute und die Achtung der Reinheit gegenüber offen zu bekennen. Im stillen berauschte er sich an ihrem Duft,
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