Oblomow
und von außen erhält man nur wenig Neues. Es ist still; man hört nur die Schritte der schweren, zu Hause angefertigten Stiefel Ilja Iwanowitschs, außerdem tickt das Pendel der Wanduhr dumpf im Gehäuse, und der von Zeit zu Zeit von Pjelageja Ignatjewna oder von Nastassja Iwanowna mit der Hand oder mit den Zähnen abgerissene Faden stört die tiefe Stille. So vergeht manchmal eine halbe Stunde, die durch nichts anderes als durch das laute Gähnen von irgend jemand unterbrochen wird, der dann den Mund bekreuzigt und sagt: »Der Herr erbarme sich!« Nach ihm gähnt sein Nachbar, dann öffnet der nächste langsam, wie auf ein Kommando, den Mund und so weiter; das ansteckende Spiel der Luft in der Lunge macht die ganze Runde, wobei manchem die Tränen kommen. Oder Ilja Iwanowitsch tritt ans Fenster, blickt hinaus und sagt mit einiger Verwunderung: »Es ist erst fünf Uhr, und draußen ist es schon so dunkel!«
»Ja«, antwortet irgend jemand, »um diese Zeit ist es immer dunkel; jetzt beginnen die langen Abende.«
Und im Frühling wundert und freut man sich, daß lange Tage beginnen. Wenn man sie gefragt hätte, wozu sie diese langen Tage brauchen, würden sie es selber nicht gewußt haben.
Und dann schweigen sie wieder. Dann beginnt irgendwer die Kerze zu putzen und löscht sie plötzlich aus – alles kommt in Bewegung: »Das bedeutet einen unverhofften Gast!« sagt sicher jemand. Manchmal wird dieser Vorfall zum Ausgangspunkt eines Gespräches.
»Was könnte das für ein Gast sein?« sagte die Hausfrau, »vielleicht gar Nastassja Fadjewna? Ach, das wäre schön! Aber nein: sie wird vor dem Feiertag nicht kommen. Das wäre eine Freude! Wie wir uns da umarmen und zusammen weinen würden. Wir würden die Früh- und die Mittagsmesse zusammen halten ... Ich kann ihr aber nicht nachkommen! Obwohl ich jünger bin, kann ich nicht so lange stehen!«
»Wann ist sie denn von uns abgereist?« fragte Ilja Iwanowitsch, »mir scheint, nach dem Eliastag.«
»Was du sagst, Ilja Iwanowitsch! Du verwechselst immer alles. Sie hat nicht einmal den Sjemik 2 abgewartet!« verbesserte die Frau.
»Mir scheint, sie war hier zu den Petrifasten«, entgegnete Ilja Iwanowitsch.
»Du machst es immer so!« sagte die Frau vorwurfsvoll, »du streitest und stellst dich dabei ganz bloß ...«
»Warum soll sie denn nicht zu den Petrifasten hiergewesen sein? Mat hat damals noch immer Pirogen mit Pilzen gebacken, sie liebt das ...«
»Das war ja Marja Onissimowna. Die liebt Pirogen mit Pilzen – wieso weißt du das nicht mehr? Und auch Marja Onissimowna war nicht bis zum Eliastag, sondern bis zum heiligen Prochor und Nikonor bei uns auf Besuch.«
Sie berechneten die Zeit nach den Feiertagen, den Jahreszeiten, nach den verschiedenen Ereignissen im Hause und in der Familie, ohne jemals auf den Monat oder das Datum hinzuweisen. Das geschah teilweise auch deshalb, weil außer Oblomow selbst alle anderen sowohl die Benennung der Monate als auch die Reihenfolge des Datums verwechselten.
Der besiegte Ilja Iwanowitsch schweigt, und die ganze Gesellschaft beginnt wieder vor sich hinzudämmern. Iljuscha, der sich hinter den Rücken der Mutter verkrochen hat, döselt auch vor sich hin oder schläft manchmal ganz ein.
»Ja«, sagt dann jemand von den Gästen tief seufzend, »Marja Onissimownas Mann, der verstorbene Wassilij Fomitsch, war, Gott habe ihn selig, so gesund und ist doch gestorben! Er hat nicht einmal sechzig Jahre gelebt; so einer hätte hundert Jahre leben sollen!«
»Wir werden alle sterben; wann ein jeder von uns sterben wird, das ist Gottes Wille!« entgegnet Pjelageja Ignatjewna seufzend. »Die einen sterben, und bei Chlopows soll man kaum Zeit zum Taufen haben; man sagt, Anna Andrjewna ist schon wieder niedergekommen – zum sechstenmal.«
»Jetzt geht es noch«, sagte die Hausfrau, »wieviel Scherereien wird's aber erst geben, wenn ihr Bruder heiratet und Kinder bekommt! Auch die jüngeren wachsen heran und müssen auch heiraten; man muß dort die Töchter verheiraten, und wo gibt es hier Bräutigame? Jetzt wollen ja alle eine Mitgift und noch dazu in barem Geld ...«
»Worüber sprecht ihr?« fragte Ilja Iwanowitsch herantretend.
»Wir sprechen darüber, daß ...« und man wiederholt ihm das Gespräch.
»So ist das menschliche Leben!« bemerkt Ilja Iwanowitsch belehrend, »der eine stirbt, der zweite wird geboren, der dritte heiratet, und wir werden immer älter. Ein Tag gleicht ebensowenig dem andern wie ein Jahr dem andern!
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