Occupy Economics
hieße die Soziale Marktwirtschaft »Solidarismus«, ein Begriff, den der Ingenieur und Erfinder Rudolf Diesel geprägt hat 4 , der sich seinerzeit in der Gewissheit wähnte, die soziale Frage tatsächlich gelöst zu haben. Sein »Brüdergedanke« überwand schon alle Standes- und Klassenunterschiede, gehört also ins Spektrum der Lösungsansätze zur sozialen Frage. Nur die Tatsache, dass er – anders als von Ketteler – die (subsidiäre) Einflussnahme des Staates generell ablehnt, macht sein Konzept für die Umsetzung lückenhaft. Wirtschaftlich gesehen, ist das Prinzip der Solidarität quasi eine Eigenentwicklung der Wirtschaftssubjekte, also der wirtschaftenden Menschen, beginnend bei den Haushalten, also einer Art internen Solidarität der Familienmitglieder, die dann auch extern einen wirtschaftlichen Zusammenhalt organisiert. Die externe wirtschaftliche Solidarität von Betrieb zu Betrieb hat ihren Ursprung in den Selbstorganisationen von Handwerkern und Händlern im Mittelalter. Das enge Nebeneinander schuf dort die Möglichkeit, sich berufsständisch zu organisieren. Gleichzeitig offenbarte sich die Notwendigkeit, mithilfe von gemeinsamen Regeln ein für alle gedeihliches Miteinander zu gestalten. Das erreichten die Zusammenschlüsse von Handwerkern in Zünften (auch: Innungen) und von Kaufleuten in Gilden oder Bruderschaften, gelegentlich tituliert als »Vereinigungen für wohltätige Zwecke«, wohl eher gemeint als Solidargemeinschaften zur Wahrung gemeinsamer Interessen. Zünfte und Gilden sahen ihre Aufgabe aber auch darin, innerstädtisch wohltätig zu sein, auch aus Dankbarkeit dafür, dass ihnen die gewerbliche Tätigkeit einen derartigen Wohlstand bescherte. Aus dem Prinzip der Solidarität entwickelten sich im 19. Jahrhundert gleichzeitig zwei Ausprägungen, die private und die staatliche Solidarität, wobei bei der staatlichen Solidarität zu unterscheiden ist zwischen der vertikalen Zuwendung und Fürsorge (von oben nach unten) und der horizontalen Solidarität, also der staatlichen Organisation von Solidargemeinschaften. Gerade aus der Gleichzeitigkeit der Anwendung der horizontalen und vertikalen Solidarität erwächst in der Sozialen Marktwirtschaft wohl die überwältigende, breite Wohlstandswirkung, die sich im Titel von Erhards berühmtem Buch Wohlstand für Alle widerspiegelt.
Die private Solidarität (horizontal)
Die Systeme horizontaler, privat organisierter Solidarität sind die wichtigste eigenwirtschaftliche Komponente in der Sozialen Marktwirtschaft. Aus dem mittelalterlichen Vorbild der Zünfte und Gilden entwickelten sich im Industriezeitalter regionale und überregionale Organisationen in Form von Wirtschaftsverbänden. Vorbild waren unter anderem die Büchergilden und deren Preisabsprachen, die schon früh deren wirtschaftliche Grundlage überregional sicherten. Manche Verbandsregeln wurden auch Kartelle genannt – in Anlehnung an die kleinen Regelkärtchen (la cart à cartel) des Mittelalters bei Ritterspielen. Die Solidarität mit den Mitbewerbern sichert allen Beteiligten Marktchancen und Einkommen. Vor allem verhindert die Solidarität mit den Mitbewerbern die Übermacht Einzelner. Auch was die Macht der Verbände anlangt, so wird sie durch die Einbindung in Dachverbände, gleichfalls Solidargemeinschaften, begrenzt. Dachverbände wiederum suchen die Abstimmung mit der Politik (Stichwort: Korporatismus).
Nicht allein in der gewerblichen Wirtschaft spielte der so nützliche und erfolgreiche Solidaritätsgedanke eine Rolle. Hatten sich im Mittelalter vor allem die Kirchen und Klöster aus Barmherzigkeit der Armen und Ärmsten angenommen, so erzwang das Massenelend am Rande oder im Zentrum der Industriegesellschaft größere Hilfseinheiten und -maßnahmen. Begrifflich war aus der mittelalterlichen Barmherzigkeit in einer Übergangszeit die politische Brüderlichkeit (französich: Fraternité) geworden, im beginnenden Industriezeitalter mutierte diese sodann zur Solidarität. Und das auf mehreren Ebenen. Zur Bekämpfung des Elends der Arbeiter bildeten sich Arbeiterkartelle, das heißt Gewerkschaften. Im Finanzbereich und bei der Versorgung der Bauern und Winzer sorgte die Gründung von Genossenschaften für Sicherheit und solidarischen Ausgleich wirtschaftlicher Risiken. Man kann sagen: Die Eroberung des Systems der Solidargemeinschaften war Grundlage für die breite wirtschaftliche Basis des Siegeszuges der Industriegesellschaft in der Kaiserzeit vor dem Ersten Weltkrieg.
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