Occupy Economics
der Rest der Welt spielt im Rahmen der WTO ohnehin das anglo-amerikanische Lied der freien Wirtschaft. »Soziale Marktwirtschaft« wird an den deutschen Hochschulen nicht gelehrt – und wenn, dann unter falscher Flagge: nämlich der Ordoliberalen.
Ludwig Erhard und die Ordoliberalen waren die Profiteure eines neuerlichen Wirtschaftswunders, das die alte Soziale Marktwirtschaft ausgelöst hatte. Allerdings verhalf die Kombination von Wirtschaftsliberalismus und Sozialer Marktwirtschaft dem wirtschaftlichen Geschehen in Deutschland in den letzten Jahrzehnten zu besonderer Dynamik. Denn, während einerseits der Wirtschaftsliberalismus als Motor für mehr Effizienz diente, fing die Soziale Marktwirtschaft auf der anderen Seite bis in die 1990er-Jahre die negativen Folgeerscheinungen (vor allem die Freisetzung von Arbeitnehmern) immer wieder auf. Das endete erst, als die Reserven der Effizienzsteigerung und Solidarität im Zuge der Globalisierung und EU-Liberalisierung endgültig aufgebraucht waren. Seitdem fangen nur noch wachsende Sozialetats und der ausufernde Versorgungsstaat die Erosion auf, allerdings ohne das Wachsen des prekären Anteils in der Bevölkerung zu verhindern.
Deutschland befindet sich, ohne es zu wollen, auf dem Weg zu einem anglo-amerikanischen Wirtschaftssystem, in Richtung Amerikanisierung. Die Ordoliberalen versprechen uns seit Jahrzehnten das Gegenteil, weil sie tatsächlich glauben, im Besitz der Rezepte der Sozialen Marktwirtschaft zu sein. Sie beschwören geradezu ihre vermeintlichen »Väter«. Wenn man aber allein das Erhard-Zitat »Die Marktwirtschaft ist umso sozialer, je freier sie ist« betrachtet, müsste manch ein Ordoliberaler schon beim schlichten Lesen erkennen, dass seine Argumentation inkonsistent ist.
Aber da besteht außerdem das große Problem des beschränkten Wissens: Woher soll ein studierter oder lehrender Ökonom etwas anderes wissen als das, was in den Büchern steht, die er im Rahmen seines Studiums vorgeschrieben bekommt? Die Ökonomie als Wissenschaft bleibt zwangsläufig bei den Theorien ihrer Lehrer und Schulen hängen. Und wenn die Historische Schule nirgendwo mehr gelehrt und gelesen wird, kennt sie auch niemand mehr. Sie ist aus den Lehrplänen getilgt – die geistige Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft, die Historische Schule, ist aus den Lehrplänen verschwunden.
Allerdings nicht ganz. Schmollers Argumente waren letztlich betriebswirtschaftlicher Art, denn er wehrte sich gegen die modelltheoretische Betrachtungsweise stets mit Hinweisen darauf, dass die Realität viel variantenreicher sei als die Modelle. Mengers Argumente waren auch betriebswirtschaftlicher Art, aber er diskutierte auf der Modellebene der Mikroökonomik, also einer Art Betriebswirtschaftslehre, die sich die Volkswirte selbst geschaffen haben, wodurch ihre Lehre autark geworden ist. Sie brauchen die »richtigen« Betriebswirte nicht mehr. Letzteres ist verantwortlich für die Sprachlosigkeit zwischen Volkswirten und Betriebswirten an Deutschlands Universitäten. Und nicht nur dort.
Die Folge dieser Spaltung ist ein weiteres Dilemma: Geistiger Stillstand seit circa 80 Jahren, was die Fortentwicklung der Gedanken und Konzepte der wahren Väter der Sozialen Marktwirtschaft anlangt. Da fragt man sich doch, ob es überhaupt noch einen Sinn hat, über eine Rettung (der Welt und der Gedanken) nachzudenken, wo doch ein unendlich großer Widerstand, vor allem aus der wissenschaftlichen Ecke, zu erwarten ist.
Dennoch, die Bewegungen, occupy und Piraten, machen auch Hoffnung. Es sind Bewegungen der Empörung gegen das Establishment, Bewegungen, die vielfach nicht festgelegt sind, die vielleicht offen sind – für alte und neue Ideen? Und die neue, alte Idee heißt »Soziale Marktwirtschaft«, und der hier in mehreren Dialogen ausgeführte wirtschaftstheoretische Grundgedanke ist am Ende die Einheit der Lehre, die gedankliche Versöhnung von Volkswirtschaftslehre und Betriebswirtschaftslehre. Der Weg dorthin führt über Analysen und Betrachtungen dessen, was wirklich ist.
1.2 Die vier Sozialtheorien und ihre Mischformen 2
Die vergangenen zwei Jahrhunderte waren geprägt von großen ideologischen Auseinandersetzungen in Politik und Wissenschaft, vor allem bekannt durch die berühmten Klassiker Liberalismus, Sozialismus und Kommunismus. Der im 19. Jahrhundert erdachte »Dritte Weg« eines sozialen Kapitalismus wurde später unter dem Begriff »Soziale Marktwirtschaft« berühmt und stellt den
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