Occupy Economics
gelernten Ökonomen besucht. Sie sind vom Lehrbetrieb abhängig. Ihnen fehlt durchweg die betriebliche Praxis, die sie durch Erfahrung klüger werden ließe.
Zu Beginn meiner Studienzeit, Ende der 1960er-Jahre, gab es an den Universitäten heftige ideologische Auseinandersetzungen, die immer wieder in der Forderung mündeten, man solle nicht nur einseitig die traditionelle Wirtschaftstheorie lehren, sondern doch bitteschön auch alternative Wirtschaftsmodelle, wie beispielsweise die Marx’schen Theorien. Rechte und Linke prallten heftig aufeinander, und das in einem wirtschaftlichen Umfeld, das man fast noch Wirtschaftswunder nennen konnte, hätte es nicht schon das erste Konjunkturprogramm von einer (!) Milliarde Mark gegeben – der Anfang der Verschwendung. Die politische Rechte, das war das wissenschaftliche Establishment, der konservative Lehrkörper, der – von ein paar Abweichlern abgesehen – traditionelle Wirtschaftstheorien lehrte, insbesondere die liberal orientierten neoklassischen. Graduelle Abweichungen gab es, wenn der Schwerpunkt auf makroökonomische Betrachtungen gelegt wurde. Erwähnt wurden gelegentlich die Theorien populärer Einzelerscheinungen wie Friedrich von Hayek und Josef Schumpeter oder Milton Friedman.
Die Vergangenheit war noch bunt und variantenreich gegenüber dem, was heute an Theorien angeboten wird. Die Neoklassik ist der Standardlehrstoff an den Universitäten, angereichert mit spieltheoretischen Ansätzen und Institutionen-ökonomischen Untersuchungen. Bewegt hat sich in einem halben Jahrhundert im Grunde fast nichts, außer dass man sich in den Theorien festgefressen hat, im Kreise dreht und das Theoriengebäude in luftige Höhen geschraubt hat, wo der Bezug von Theorie und Realität oft schon nicht mehr verständlich dargestellt werden kann. Gab es vor fünfzig Jahren noch einen Ausreißversuch, indem man die Aufnahme sozialistischer Theorien in den Lehrplan forderte (aber nicht bekam), hat sich diese Forderung heute durch den »Sieg« des Kapitalismus und den Untergang der kommunistischen Länder erledigt.
Und das ist auch gut so. Nicht gut ist jedoch, dass sich die Theorie nicht weiterentwickelt hat, dass sie von der Realität überholt wurde, dass sie auf die drängenden Fragen der Neuzeit keine Antworten mehr hat, dass Menschen wie Politiker heute vor einer Blackbox stehen, die ihnen keinen Durchblick und damit keine Entscheidungshilfe mehr liefert. Und gleichzeitig befindet sich die Welt immer mehr in einer Schieflage, nein, nicht in einer Schieflage, in vielen Schieflagen. Die Theorien haben an vielen Stellen fundamental versagt.
Die wahrscheinlich bedeutendste Schieflage ist die ökologische Schieflage, eine Schieflage, deren Neigung vermutlich schon so ist, dass das gesamte Ökosystem der Erde dabei ist, abzurutschen. Das Schmelzen der Gletscher, der Polkappen und des Grönlandschildes ist wohl schon nicht mehr aufzuhalten.
Nicht minder bedeutend ist die humanitäre Schieflage, die schon deshalb schwer zu beschreiben ist, weil sie so viele Gesichter hat: Da ist die wachsende Zahl der Armenküchen bei uns und der Sozialmarken-Empfänger in den USA, da gibt es das Wachstum der Slums und ihrer unsäglichen Bedingungen in mehreren Teilen der Welt (Indien, Südamerika et cetera), eine Entwicklung, die sogar Mutter Theresa an Gott zweifeln ließ. Da gibt es die globale Entwurzelung von Milliarden von Menschen, getrieben vom Wachstumszwang einer Industriegesellschaft (China), die die Worte Ruhe, Muße und Gleichgewicht nicht mehr kennt.
Und da ist die ökonomische Schieflage, die zwei Gesichter hat, die Ungerechtigkeit der Einkommensverteilung und die Ungerechtigkeit der Vermögensverteilung. »Wir sind die 99 Prozent« ist der Aufschrei der »occupy-Habenichtse«, die 99 Prozent der Bevölkerung ausmachen, die aber nur einen minimalen Anteil des Vermögens besitzen.
Der Erfolg der Piraten-Partei wird aus einer ähnlichen Begründung gespeist. Die Piraten sind die jungen, überdurchschnittlich gebildeten, politischen Protestierer. Sie sind eine Protestorganisation der »Generation der Verlierer«, Kinder einer Generation, die sich die Förderung der Kreativität in den Kinderzimmern und Kindergärten auf die Fahne geschrieben hatte. Auf dem Arbeitsmarkt angekommen, macht die so geförderte Generation die Erfahrung, dass sich mit den erlernten Fähigkeiten kein Geld verdienen lässt. Während ihre Vorfahren ihre Zukunft in traditionellen, bodenständigen Berufen sah
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