Ocean Rose. Erwartung (German Edition)
entfernte.
Ein paar Sekunden später waren die gut fünfzig lächelnden Justines verschwunden. Ich trat einen Schritt zurück, um die Pinnwand im Ganzen zu betrachten.
Autoaufkleber. Sieben Stück, die Mom mitgebracht hatte, als sie mit Justine nach Harvard, Yale, Princeton, Brown, Stanford, Cornell und Dartmouth gefahren war. Sie formten einen akademischen Kreis um eine Tabelle und den Ausdruck eines typischen Bewerbungsformulars.
Die Tabelle bestand aus den Namen der Colleges und drei Spalten für den jeweiligen Aufnahmeschluss, das Datum der Bewerbung und das Datum der Rückantwort. Nur die Spalte mit dem Aufnahmeschluss war ausgefüllt, und zwar in Moms ordentlicher Handschrift. Die anderen waren leer. Auf dem Bewerbungsformular stand ebenfalls nichts außer Anmerkungen und Vorschlägen von Mom. Mein Blickblieb auf der mittleren Seite haften, wo die Bewerber einen Aufsatz mit einem persönlichen Thema ihrer Wahl abliefern sollten. Ein grüner Post-it-Zettel war oben angeklebt, auf dem Mom vorschlug, Justine solle schreiben, wer sie jetzt war und wer sie später werden wolle.
Justines Antwort war kurz:
Sorry, ich habe keine Ahnung.
Aber du genauso wenig.
Ich starrte auf die Worte. Vielleicht hatte ich länger als nötig gebraucht, um diese Hinweise zu finden, aber ihren Sinn verstand ich sofort. Justine wäre im Herbst nicht nach Dartmouth gegangen. Und ebenso wenig nach Harvard, Yale, Princeton, Brown, Stanford oder Cornell. Denn um ein Studium an einer Eliteuniversität zu beginnen, musste man sich erst einmal bewerben. Und offensichtlich hatte Justine sich nirgends beworben.
Unten waren die Gäste versammelt, um Justines Leben zu feiern und darüber nachzusinnen, welches Potential mit ihr verlorengegangen war, welche Taten sie niemals vollbringen und welche Orte sie niemals besuchen würde. In einem Punkt hatte ich recht gehabt: Keiner von den Unbekannten, die sich in unserem Haus mit Kuchen vollstopften, hatte eine Ahnung, wer Justine wirklich gewesen war. Aber nun musste ich mit Schrecken feststellen, dass ich in gewisser Weise auch falschgelegen hatte.
Ich hatte Justine genauso wenig gekannt.
Eine Flurtür schlug zu und riss mich aus meinen Gedanken. Ich nahm das Aufsatzformular von der Pinnwand und das Foto von uns beiden im Ruderboot vom Tisch, pinnte die anderen Bilder wieder an und lief zur Tür.
Gerade wollte ich in den Flur flüchten, als ich die Hände vors Gesicht schlagen musste, um mir Nase und Mund zuzuhalten.
Salzwasser. Ich hatte mich an den Geruch gewöhnt, während ich mich im Zimmer aufgehalten hatte, aber hier war er viel stärker – überwältigend, als habe eine Riesenwelle bereits den Rest des Hauses überrollt und warte vor Justines Tür darauf, dass ich sie einließ. So extrem war der Geruch, dass mir davon schwindelig wurde und ich den Kopf senken musste.
»Oh, nein.« Ich nahm die Hände vom Gesicht. »Oh, Justine …«
Ein zerknülltes Badehandtuch lag vor dem Kleiderschrank. Flauschig und weiß … mit einem grinsenden Cartoon-Hummer voller grüner und schwarzer Algenreste.
Calebs Badehandtuch – in das er Justine letzte Woche eingewickelt hatte, bevor er sie oben auf den Klippen in die Arme schloss – befand sich hier, trocken und steif vom Salz, in Boston.
Ich sank auf die Knie und hob das Handtuch auf. Sie war nach Hause gefahren. Irgendwann zwischen ihrem wütenden Abgang beim Essen auf der Veranda und dem folgenden Morgen, als man ihren toten Körper fand, war sie hier in Boston gewesen.
Keine Panik, sagte ich mir und unterdrückte die Vorstellung, wie das weiße Frotteetuch um Justines Schultern ausgesehen hatte. Alles ist okay.
Nur stimmte das natürlich nicht. Die Situation war so ganz und gar nicht okay, dass ich mir nicht einmal etwas vormachen konnte. Ich sah das Handtuch als einen weiteren Beweis dafür, dass ich nur geglaubt hatte, meine Schwester zu kennen. In Wirklichkeit hatte jemand anderer ihr viel nähergestanden. Und Justine hatte es – aus welchem Grund auch immer – genau so gewollt.
K APITEL 3
S eid ihr verrückt geworden?«
Ich nahm meine Reisetasche vom Bürgersteig und stopfte sie in den Kofferraum von Dads Volvo. »Bist du sicher, dass du das Auto nicht brauchst?«, fragte ich und überhörte Mom, die barfuß in einem Morgenmantel aus Kaschmir vor der Haustür stand und uns missbilligend zusah.
»Ich meine, ganz ehrlich«, versuchte sie es erneut, »habt ihr beide den Verstand verloren?«
Dad stellte seine Schüssel mit
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