Ocean Rose. Erwartung (German Edition)
Hintertasche meiner Jeans.
Ich ging die kurze Strecke zum Haus der Carmichaels, lief die Eingangsstufen hoch und klingelte. Als ich das leise Dingdong drinnen hörte, trat ich einen Schritt zurück und wartete.
Caleb kam nicht an die Tür. Auch nicht Mrs Carmichael, die mich gewöhnlich mit einem Lächeln und ausgebreiteten Armen empfing. Man hörte nicht einmal Schritte, die sich der Tür näherten.
Ich wartete eine Minute und klingelte wieder.
Nichts.
Mit einer Hand den Blick abschirmend, schaute ich durch ein Fenster in das Wohnzimmer. Dann ging ich die Veranda entlang und probierte es mit dem Küchenfenster. Die Arbeitsplatten waren leer, auf dem Tisch stapelten sich weder Comicbücher noch Wissenschaftszeitschriften, und in der Spüle wartete kein schmutziges Geschirr.
Das Haus der Carmichaels wirkte von innen genauso wie unseres von außen, nämlich verlassen.
Sie werden bald zurückkommen, sagte ich mir, als ich die Eingangsstufen wieder hinunterging. Bestimmt sind sie nur bei der Arbeit. Oder einkaufen. Spätestens zum Abendessen sind sie wieder zurück.
Falls das stimmte, hatte ich ungefähr fünf Stunden Wartezeit vor mir. Ganz allein.
Ich hatte nicht vor, so lange in unserem leeren Haus herumzusitzen, also nahm ich mir Zeit für den Rückweg. Zuerst schlenderte ich bei den Carmichaels durch den Garten, der mir im Laufe der Jahre so vertraut geworden war wie unser eigener. Nach Tausenden von Versteckspielen kannte ich jede Kuhle im Rasen, jeden Hügel und wusste, welche Bäume sich am besten eigneten, um außer Sicht zu verschwinden. Tatsächlich war Versteckspielen in unserer Kindheit das Einzige gewesen, bei dem ich Justine hatte schlagen können. Vor allem, weil ich es vorzog, unentdeckt zu bleiben, während sie dafür lebte, von allen gesehen zu werden.
Ich ging bis an den Rand des Wassers und betrat den Bootssteg. Als ich sein Ende erreicht hatte, schaute ich über den See und dann auf unseren eigenen Steg, der nur ein paar Meter entfernt lag. Ich fühlte einen Schmerz in der Brust, als ich dort keine Wasserflaschen, Sonnencreme und aufgeschlagene Bücher sah, eben alles, was nötig war, um einenfaulen Sommernachmittag zu genießen. Die dicken Taue, die sonst unser rotes Ruderboot befestigten, waren um die Pfähle gewickelt.
Ich wandte mich ab, zog Schuhe und Strümpfe aus, krempelte die Hosenbeine hoch und setzte mich auf den Steg. Die Sonne schien so warm, dass ich in Versuchung war, die Füße ins kühle Wasser baumeln zu lassen, aber ich behielt die Beine oben an die Brust gezogen. Zwei Jahre lang hatte Justine mir versichert, dass sich die Minifische im Lake Kantaka mehr vor mir fürchteten als umgekehrt, und ich hatte geantwortet, dass ich mir wegen der Fische keine Sorgen machte. Wovor ich mich in Wirklichkeit fürchtete, hatte ich für mich behalten.
»Vanessa?«
Er sieht diesen Sommer anders aus, findest du nicht?
Ich schaute hoch. Simon hockte etwas entfernt in seinem Ruderboot, hatte die Paddel eingezogen und driftete auf mich zu. Ich lächelte überrascht und gleichzeitig erleichtert, ihn zu sehen. Er wirkte ebenso überrascht, aber erwiderte das Lächeln nicht. Nach ein paar Sekunden nahm er die Paddel und begann wieder zu rudern.
Ich wollte hallo sagen und fragen, wie es ihm ging. Und wenn ich das nicht schaffte, dann wollte ich wenigstens eine unverfängliche Bemerkung machen, die das Eis brach, ihn zum Beispiel nach den Notizheften, Petrischalen und Plastikampullen fragen, die auf dem Boden des Bootes verteilt waren. Wenn Justine und ich auf den See hinausruderten, waren wir gewöhnlich von Tupperdosen voller Melonenstücke und von herumliegenden Klatschzeitschriften umgeben gewesen. Simons Boot dagegen sah aus wie ein schwimmendes Labor.
Als es gegen den Steg stieß, nahm er eins der Taue und wickelte es um eine Metallklampe des Ruderboots. Er sammelte die Notizhefte, Schälchen und Ampullen zusammen und verstaute sie in einem Rucksack. Mir kam es vor, als würde er sich unnötig Zeit lassen und hoffen, dass ihm in den paar zusätzlichen Sekunden die richtigen Worte einfallen würden.
Mein Puls begann, schneller zu schlagen, als Simon aus dem Boot stieg. Er schaute mich nicht an, sondern wischte sich die Hände an der Vorderseite seiner kurzen Hose ab und setzte sich auf den Steg neben mich.
»Ich hoffe, du hasst mich jetzt nicht«, sagte er nach einem Augenblick.
»Dich hassen? Wieso?«
»Ich wollte kommen«, erklärte er und hielt den Blick auf das Wasser zu
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