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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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wahrgenommene Gerüche, unbekannte Geräusche – es war eine andere Welt. Er betrachtete Elisewin und konnte sich nicht vorstellen, wie sie sich all diesem annähern sollte, ohne im Nichts zu versinken, ohne sich in Luft aufzulösen vor Erregung und Erstaunen. Er dachte an den Augenblick, in dem sie sich plötzlich umdrehen würde und das Meer in den Blick bekam. Wochenlang dachte er darüber nach. Dann wußte er es. Im Grunde war es gar nicht so schwer. Unbegreiflich, daß er nicht früher daran gedacht hatte.
    »Wie kommen wir hin, ans Meer?« fragte ihn Pater Pluche.
    »Es wird euch selbst abholen kommen.«
    An einem Aprilmorgen reisten sie ab, fuhren durch Felder und über Hügel und kamen bei Sonnenuntergang des fünften Tages an ein Flußufer. Es gab keinen Ort, keine Häuser, nichts. Doch auf dem Wasser schaukelte still ein kleines Schiff. Es hieß Adel. Gewöhnlich verkehrte es, Reichtümer und Elend zwischen dem Kontinent und den Inseln hin und her befördernd, in den Gewässern des Ozeans. Den Bug zierte eine Galionsfigur, deren lange Haare bis zum Boden reichten. Alle Winde der fernen Welt füllten die Segel. Der Kiel hatte jahrelang den Leib des Meeres erforscht. In jedem Winkel erzählten unbekannte Gerüche Geschichten, die die Gesichter der Seeleute in ihre Haut eingeschrieben trugen. Es war ein Zweimaster. Der Baron von Carewall hatte befohlen, daß er vom Meer aus bis zu jener Stelle den Fluß hinauf fahren sollte.
    »Das ist ein wahnsinniger Einfall«, hatte der Kapitän ihm geschrieben.
    »Ich werde Sie mit Gold überhäufen«, hatte der Baron geantwortet.
    Und nun war der Zweimaster namens Adel da, gleich einem von jeder vernünftigen Route abgekommenen Gespensterschiff. Auf dem kleinen Steg, an dem gewöhnlich winzige Boote lagen, umarmte der Baron seine Tochter und sagte:
    »Leb wohl.«
    Elisewin schwieg. Sie verhüllte ihr Gesicht mit einem Seidenschleier, ließ ein zusammengefaltetes, versiegeltes Blatt Papier in des Vaters Hände gleiten, drehte sich um und ging auf die Männer zu, die sie auf das Schiff bringen sollten. Es war schon fast Nacht. Anders betrachtet, hätte es auch ein Traum sein können.
    So reiste Elisewin auf die sanfteste Art der Welt flußabwärts dem Meer entgegen – nur einem Vater konnte so etwas in den Sinn kommen –, von der Strömung getragen, in einem Tanz von Windungen, Pausen und Verzögerungen, die der Fluß in jahrhundertelanger Fahrt gelernt hatte, er, der große Weise, der einzige, der den schönsten, sanftesten und behutsamsten Weg kannte, der ohne weh zu tun zum Meer führte. Sie segelten flußabwärts, so langsam, wie es die mütterliche Weisheit der Natur millimetergenau vorgab, gelangten nach und nach in eine Welt von Düften, Dingen, Farben, die Tag um Tag ganz bedächtig erst das entfernte, dann immer näher kommende Zugegensein des enormen Schoßes offenbarte, der sie erwartete. Die Luft veränderte sich, das Morgengrauen, der Himmel und die Bauweise der Häuser, die Vögel und die Geräusche, die Gesichter der Menschen am Ufer und die Wörter der Menschen auf ihren Lippen. Wasser glitt in Wasser hinein, wie schmeichelndes Umwerben, die Biegungen des Flusses wie ein Wiegenlied der Seele. Eine lautlose Reise. In Elisewins Kopf Tausende von Empfindungen, aber so leicht wie Federn im Wind.
    In den Ländereien von Carewall erzählt man sich immer noch von dieser Reise. Jeder auf seine Weise. Alle, ohne sie miterlebt zu haben. Aber das macht nichts. Sie werden niemals aufhören, davon zu erzählen. Denn niemand soll vergessen, wie schön es wäre, wenn es für jedes Meer, das uns erwartet, einen Fluß für uns gäbe. Und jemand – ein Vater, ein Geliebter, irgend jemand –, der uns an die Hand nehmen und jenen Fluß finden könnte – ihn sich erdenken, ihn erfinden –, um uns mit der Leichtigkeit eines kurzen Ausrufs auf die Strömung zu setzen: Leb wohl. Das wäre wahrlich märchenhaft schön. Es wäre sanft, das Leben, jedes Leben. Und die Dinge würden nicht schmerzen, sondern sich von der Strömung getragen annähern, man könnte sie zuerst leicht, dann fester berühren und sich schließlich von ihnen berühren lassen. Sich auch verletzen lassen. Daran sterben. Das ist nicht wichtig. Aber alles wäre endlich menschlich. Man benötigte nur irgend jemandes Phantasie – die eines Vaters, eines geliebten Menschen, die von irgend jemandem. Der würde einen Weg erfinden, hier mitten in dieser Stille, auf dieser Erde, die nicht sprechen will. Einen

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