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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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gütigen und schönen Weg. Einen Weg von hier zum Meer.
    Reglos beide, die Augen starr auf die unermeßliche Wasserfläche gerichtet. Unbegreiflich. Im Ernst. Ein Leben lang könnte man so stehenbleiben, ohne das Geringste zu begreifen, und immer nur schauen. Das Meer vor sich, einen langen Fluß hinter sich und schließlich Boden unter den Füßen. Und sie beide dort, reglos. Elisewin und Pater Pluche. Wie verzaubert. Ohne einen Gedanken im Kopf, einen wirklichen Gedanken, nur Staunen. Verwunderung. Und es dauert Minuten, viele Minuten – eine Ewigkeit –, bis Elisewin endlich, ohne die Augen vom Meer abzuwenden, sagt:
    »Aber irgendwo hört es doch auf?«
    Hunderte von Kilometern entfernt, in der Einsamkeit seines riesigen Schlosses, hält ein Mann eine Kerze nah an ein Blatt Papier und liest. Wenige Worte, alle in einer Zeile. Schwarze Tinte. 
     
    Fürchte dich nicht, auch ich fürchte mich nicht. Ich, die ich dich liebe. Elisewin.
     
    Später wird eine Kutsche sie abholen, denn es ist Abend, und die Pension wartet. Eine kurze Fahrt. Die Straße führt am Strand entlang. Ringsherum niemand. Fast niemand. Im Meer – was macht er im Meer? – ein Maler.

7
     
    Auf Sumatra, vor der Nordküste von Pangei, tauchte alle sechsundsiebzig Tage ein dicht bewachsenes und augenscheinlich unbewohntes Inselchen in Form eines Kreuzes aus dem Meer auf. Wenige Stunden nur blieb es sichtbar, bevor es wieder im Meer versank. Am Strand von Carcais hatten die Fischer des Dorfes die Überreste der Davemport gefunden, die acht Tage zuvor am anderen Ende der Erde im Meer von Ceylon gesunken war. Auf der Route nach Farhadhar erschienen den Seeleuten seltsame leuchtende Schmetterlinge, die in ihnen Benommenheit und ein Gefühl von Schwermut auslösten. In den Gewässern von Bogador war ein Konvoi von vier Kriegsschiffen verschwunden, der an einem Tag ohne den leisesten Seegang von einer einzigen, aus dem Nichts aufgetauchten Riesenwelle verschlungen worden war.
    Admiral Langlais blätterte bedächtig in den Dokumenten, die aus den unterschiedlichsten Gegenden einer Welt stammten, die sich offensichtlich ihren Irrsinn bewahrt hatte. Briefe, Auszüge aus Bordbüchern, Zeitungsausschnitte, Vernehmungsprotokolle, vertrauliche Nachrichten, Briefbotschaften. Von allem etwas. Die lakonische Kälte amtlicher Verlautbarungen oder die alkoholisierte Vertraulichkeit visionärer Seeleute durchkreuzten gleichermaßen die Welt, um auf dem Schreibtisch zu landen, an dem Langlais im Namen des Reiches mit seiner Gänsefeder die Grenze zog zwischen dem, was im Reich als wahr betrachtet werden, und dem, was als unwahr in Vergessenheit geraten würde. Von den Meeren des gesamten Erdballs zogen Hunderte von Gestalten und Stimmen wie in einer Prozession auf seinem Schreibtisch vorbei, um dort von einem Urteil, so scharf wie eine mit schwarzer Tinte gezogene Linie, verschluckt zu werden, die mit exakter Handschrift säuberlich in die in schwarzes Leder gebundenen Bücher eingesetzt wurde. Langlais’ Hand war der Schoß, auf dem ihre Reisen Platz nahmen. Seine Feder die Klinge, über die er ihre Mühen springen ließ. Ein präziser, sauberer Tod. 
     
    Die vorliegende Aufzeichnung ist als gegenstandslos zu betrachten und darf als solche in den Landkarten und Dokumenten des Reiches weder verbreitet noch zitiert werden. 
     
    Oder ein auf ewig ungetrübtes Leben. 
     
    Die vorliegende Aufzeichnung ist als wahrheitsgemäß zu betrachten und findet als solche Aufnahme in allen Karten und Dokumenten des Reiches. 
     
    Langlais urteilte. Er verglich die Beweisstücke, überprüfte die Zeugenaussagen, untersuchte die Quellen. Und urteilte dann. Tagtäglich lebte er inmitten der Trugbilder einer unendlichen kollektiven Phantasie, in denen der klare Blick des Forschers und der halluzinierte Blick des Schiffbrüchigen manchmal identische Bilder und auf unlogische Weise sich ergänzende Geschichten produzierten. Er lebte inmitten von Wundern. Deshalb regierte in seinem Palast eine festgelegte, geradezu manische Ordnung: Sein Leben glitt dahin in einer unveränderlichen, strengen Geometrie von gewohnheitsmäßigen Handlungen, fast wie in einer Liturgie. So schützte sich Langlais. Er hielt die eigene Existenz fest in einem Netz millimetergenauer Regeln, mit denen er den Strudel des Imaginären, dem er seinen Verstand tagtäglich widmete, eindämmte. Die Ausschweifungen, die von allen Meeren der Welt auf ihn einströmten, wurden an dem akkuraten Damm seiner

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