Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
peniblen Sicherheiten aufgefangen. Einen Schritt weiter erwartete sie Langlais’ Weisheit wie ein friedlicher See. Unbeugsam und gerecht.
Durch die geöffneten Fenster kam das rhythmische Geräusch einer Heckenschere herein, mit der der Gärtner mit der Sicherheit einer auf rettende Urteilssprüche angelegten Gerechtigkeit Rosen schnitt. Ein unbedeutendes Geräusch. An jenem Tag jedoch übermittelte das Geräusch dem Kopf des Admirals Langlais eine ganz bestimmte Nachricht. Geduldig und hartnäckig – zu nah am Fenster, um Zufall zu sein – vermittelte es ihm die obligatorische Erinnerung an eine Pflicht. Langlais hätte es lieber nicht gehört. Doch er war ein Ehrenmann. Folglich legte er die Papiere, die von den Inseln, Wracks und Schmetterlingen erzählten, beiseite, öffnete eine Kassette, nahm drei versiegelte Briefe heraus und legte sie auf den Schreibtisch. Sie kamen aus drei unterschiedlichen Gegenden. Obwohl sie die Kennzeichen für dringende und vertrauliche Post trugen, hatte Langlais sie aus Feigheit einige Tage an einer Stelle liegenlassen, wo er sie nicht einmal sehen konnte. Nun aber, mit trockener, formeller Geste, öffnete und las er sie, wobei er sich jedes Zögern untersagte. Auf einem Blatt notierte er ein paar Namen, ein Datum. Er bemühte sich, dies alles mit der unpersönlichen Neutralität eines königlichen Reichsbuchhalters zu tun. Seine letzte Eintragung lautete:
Pension Almayer, Quartel
Schließlich nahm er die Briefe in die Hand, erhob sich, und beim Kamin angekommen, warf er sie in die zaghafte Flamme, die über den schwachen Frühling jener Tage wachte. Während er beobachtete, wie sich die wertvolle Eleganz der Botschaften, die er nie im Leben hätte lesen wollen, kräuselte, nahm er deutlich eine dankbare, plötzliche Stille durch das geöffnete Fenster wahr. Die Hekkenschere, bis dahin unermüdlich wie ein Uhrzeiger, schwieg. Erst etwas später verhallten in der Stille die Schritte des Gärtners, der sich entfernte. Es lag etwas derartig Gewissenhaftes in diesem Fortgehen, daß jedermann sich gewundert hätte. Nur Langlais nicht. Er wußte Bescheid. Rätselhaft für jedermann, kannte die Beziehung, die die beiden Männer – einen Admiral und einen Gärtner – verband, für diese keine Geheimnisse mehr. Die Gewohnheit des aus langen Zeitabschnitten des Schweigens und privater Signale bestehenden Miteinanders wachte seit Jahren über ihre einmalige Allianz.
Es gibt viele Geschichten. Diese kam von weit her.
Sechs Jahre zuvor wurde eines Tages ein Mann dem Admiral Langlais vorgeführt, der, wie man sagte, Adams hieß. Groß, robust, bis zu den Schultern reichendes Haar, von der Sonne verbrannte Haut. Es hätte ein Seemann wie viele andere sein können. Doch um ihn auf den Füßen zu halten, mußte man ihn stützen, er war nicht fähig zu gehen. Sein Hals wies eine abstoßende schwärende Wunde auf. Er stand auf eine unnatürliche Weise unbeweglich da, wie gelähmt oder abwesend. Das einzige, was auf einen letzten Rest von Bewußtsein hindeutete, war sein Blick. Es schien der Blick eines sterbenden Tieres zu sein.
»Er hat den Blick eines jagenden Tieres«, dachte Langlais.
Sie hätten ihn in einem Dorf im Herzen Afrikas gefunden, sagten sie. Es waren noch mehr Weiße da unten: Sklaven. Er jedoch war etwas anderes. Er war das Lieblingstier des Stammeshäuptlings. Auf groteske Weise mit Federn und bemalten Steinen geschmückt, bewegte er sich auf allen Vieren und war mit einem Strick an den Thron des königähnlichen Mannes angebunden. Er aß die Abfälle, die ihm dieser hinwarf. Sein Körper war von Wunden und Schlägen zerschunden. Er hatte zu bellen gelernt, auf eine Weise, die den König sehr amüsierte. Wenn er noch lebte, dann wahrscheinlich nur deshalb.
»Was hat er zu berichten?« fragte Langlais.
»Er, nichts. Er spricht nicht. Er will nichts sagen. Aber die anderen, die mit ihm zusammen waren … die anderen Sklaven … und wieder andere, die ihn erkannt haben, am Hafen … also, sie erzählen außergewöhnliche Dinge über ihn, es ist, als sei er überall schon gewesen, dieser Mann, rätselhaft … wenn man alles glauben will, was man sich erzählt …«
»Was erzählt man sich?«
Er, Adams, reglos und abwesend mitten im Raum. Und um ihn herum die explodierenden und die Luft auffrischenden Ausschweifungen der Erinnerung und Phantasie über die Abenteuer eines Lebens, das, wie sie sagen, das seine ist / dreihundert Kilometer zu Fuß durch die
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