Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
Vom Netzwerk:
wo sie hinlaufen muß, über die Nervenbahnen der schüchternen Frauen ins Geheime der gewichtigen, unschuldigen Röcke, die Frauen. Es schien plötzlich, als habe das Meer seit jeher auf sie gewartet. Wenn man den Ärzten Glauben schenken soll, war es seit Jahrtausenden da, sich geduldig vervollkommnend, in der einzigen, offenkundigen Absicht, sich ihren Leiden an Leib und Seele als Wundertinktur anzubieten. So wie in untadeligen Salons untadelige, ihren Tee nippende Doktoren fortwährend untadeligen Ehemännern und Vätern in gemessenen Worten mit geradezu paradoxer Höflichkeit erklärten, daß das Ekelerregende des Meeres ebenso wie der Schock und das Entsetzen in Wirklichkeit die seelenberuhigende Therapie für Sterilität, Appetitlosigkeit, nervliche Erschöpfungszustände, Wechseljahre, Überreiztheiten, Unruhezustände und Schlaflosigkeit darstellte. Das ideale Verfahren, um jugendliche Erregungszustände zu heilen und auf die Mühen der ehelichen Pflichten vorzubereiten. Feierliche Aufnahmetaufe für die zu Frauen gewordenen jungen Mädchen. Wenn man jetzt einmal kurz den Irren im Meer von Brixton vergessen wollte, (der Irre rannte immer weiter, jetzt aber ins Tiefe, bis er nicht mehr zu sehen war, ein wissenschaftlicher Befund, der den Statistiken der medizinischen Akademie entwichen war und sich selbst spontan dem Leib des Ozeanmeers ausgeliefert hatte) wenn man den einmal vergessen wollte, (verdaut vom großen Wasserdarm, nie an den Strand zurückgeschwemmt, nie in die Welt zurückgespuckt, wie man hätte erwarten können, als eine unförmige, blaßblaue Blase) könnte man sich eine Frau vorstellen – eine Frau – eine geachtete, geliebte, Mutter, Frau. Aus welchem Grund auch immer – Krankheit – an ein Meer gebracht, das sie sonst nie zu Gesicht bekommen hätte und das nun der Maßstab für ihre Genesung ist, unermeßlicher, wahrhaftiger Maßstab, auf den sie blickt und den sie nicht durchschaut. Mit offenen Haaren und nackten Füßen, was nicht belanglos ist, sondern absurd, mit ihrer weißen Tunika und den Hosen, die die Knöchel unbedeckt lassen; man erahnt ihre schmalen Hüften, auch das ist absurd, nur im ehelichen Zimmer hat sie sich so gezeigt, und dennoch zeigt sie sich jetzt so an einem langen, breiten Strand, wo nicht die Luft des Brautgemachs stickig steht, sondern der Wind vom Meer her weht und das Edikt wilder Freiheit mitbringt, welche verdrängt, vergessen, unterdrückt, entwertet war zugunsten eines ganzen Lebens als Mutter, Gattin, Geliebte, Frau. Und klar ist: Sie kann nicht umhin, es zu spüren. Die Leere ringsumher, ohne Wände und geschlossene Türen, vor sich allein ein unermeßlicher, erregender Wasserspiegel, er allein wäre schon ein Fest für die Sinne, Orgie der Nerven, und dabei wird alles erst noch geschehen, der Biß des eiskalten Wassers, die Angst, die flüssige Umarmung des Meeres, das Kribbeln auf der Haut, das Herz im Hals …
    Sie wird ans Wasser geführt. Über ihr Gesicht legt sich – erhabenes Verbergen – eine seidene Maske.
    Andererseits hatte nie jemand den Kadaver des Irren von Brixton für sich beansprucht. Das muß man sagen. Die Ärzte experimentierten, das muß man verstehen. Es waren unglaubliche Paare im Umlauf, der Kranke und sein Arzt, sehr elegante, durchsichtige Kranke, gottgewollt langsam von der Seuche zerfressen, und Ärzte, wie die Mäuse im Keller auf der Suche nach Indizien, nach Beweisen, Zahlen und Ziffern: Sie belauerten die Bewegungen der Krankheit in deren planloser Flucht vor dem Hinterhalt einer widersinnigen Therapie. Sie tranken das Meerwasser, so weit war es gekommen, das Wasser, das bis gestern schrecklich und ekelerregend war, Privileg einer verlassenen, barbarischen Menschheit mit sonnenverbrannter Haut, bedrückender Unrat. Jetzt tranken sie es schlückchenweise, diese himmlischen Versehrten, die den Strand entlangspazierten und kaum wahrnehmbar ein Bein nachzogen, hervorragend ein vornehmes Hinken vortäuschend, das sie davor bewahren sollte, dem alltäglichen Gebot zu folgen, ein Bein vor das andere zu setzen. Alles war Therapie. Manch einer fand eine Gattin, andere schrieben Gedichte, es war die Welt, wie sie immer war – abstoßend, genau besehen –, nur hatte sie sich auf einmal – zu ausschließlich medizinischen Zwecken – am Rande eines jahrhundertelang verabscheuten Abgrundes angesiedelt, der plötzlich – ebenso freiwillig wie wissenschaftlich – ausersehen worden war als Promenade des Schmerzes.
    Wellenbad

Weitere Kostenlose Bücher