Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
nannten es die Ärzte. Es gab sogar eine Maschinerie, ganz im Ernst, eine Art Sänfte, patentiert sogar, um ins Meer zu gelangen. Sie diente den Damen, den verheirateten und unverheirateten selbstverständlich, um sich vor indiskreten Blicken zu schützen. Sie stiegen in die Sänfte, die von allen Seiten mit Vorhängen in gedeckten Farben – Farben, die gewissermaßen nicht schreiend waren – verschlossen war, und ließen sich ein paar Meter weit ins Meer hinein tragen, und dort, die Sänfte auf Wasserhöhe, stiegen sie hinab und nahmen ein Bad als Behandlung: fast unsichtbar hinter ihren Vorhängen, im Wind schwingenden Vorhängen, Tabernakeln gleichende, auf dem Wasser treibende Sänften, Vorhänge als Schutz vor einer unerklärlichen, im Wasser wie verloren wirkenden Zeremonie, ein Schauspiel, vom Strand aus gesehen. Das Wellenbad.
Nur die Wissenschaft versteht sich auf gewisse Dinge, das ist die Wahrheit. Jahrhunderte des Ekels wegzuwischen – das schreckliche Meer, Hort der Verwesung und des Todes – und jene Idylle zu erfinden, die sich nach und nach über alle Strände
der Welt verbreitet. Heilungen wie Liebschaften. Und dann dieses: Am Strand von Depper spülte eines Tages eine Welle ein Boot an Land, ein Wrack, wenig mehr als ein Relikt. Und da waren sie, die von der Krankheit Verführten, über den kilometerlangen Strand verstreut, ein jeder für sich, um die Begattung mit dem Meer zu vollziehen, elegante Verzierungen im unübersehbar weiten Sand, ein jeder in seiner eigenen Luftblase der Erregung, zwischen Lüsternheit und Angst. Im guten Glauben an die Wissenschaft, die sie dorthin berufen hatte, stiegen alle langsamen Schrittes von ihrem Himmel herab und begaben sich zu jenem Wrack, das zögerte, sich in den Sand zu bohren, wie ein Bote, der Angst vor der Ankunft hat. Sie traten näher heran. Sie zogen es aufs Trockene. Und sahen ihn. Im hinteren Teil des Bootes liegend, den Blick nach oben gerichtet, einen Arm ausgestreckt, als wolle er ihnen etwas reichen, was nicht mehr vorhanden war. Sie sahen ihn: einen Heiligen . Die Statue war aus Holz. Angemalt. Der Umhang reichte ihm bis zu den Füßen, eine Wunde durchschnitt seinen Hals, seine Miene jedoch verriet nichts davon, aus ihr sprach eine sanfte, überirdische Heiterkeit. Nichts weiter befand sich in dem Boot, nur der Heilige. Er allein. Und alle schauten einen Augenblick lang instinktiv auf und suchten auf der Fläche des Ozeans den Umriß einer Kirche, ein verständlicher, wenn auch irrationaler Gedanke, da waren weder Kirchen noch Kreuze noch Pfade, das Meer hat keine Wege, das Meer hat keine Erklärungen.
Die Blicke Dutzender Versehrter wie auch schwindsüchtiger, wunderschöner, ferner Frauen, die der Mäuseärzte, der Helfer und Wärter, der gealterten Voyeure, der Neugierigen, Fischer, jungen Mädchen und – eines Heiligen. Verwirrt, sie alle und auch er, und unentschlossen.
Eines Tages, am Strand von Depper.
Niemand hat es je verstanden.
Nie.
»Bringen Sie sie nach Daschenbach, für Wellenbäder ist es der ideale Strand. Drei Tage. Ein Unterwasserbad am Morgen und eines am Abend. Fragen Sie nach Doktor Taverner, er wird sich um alles Nötige kümmern. Hier ist ein Empfehlungsschreiben für ihn. Nehmen Sie.«
Der Baron nahm den Brief, ohne ihn auch nur anzuschauen.
»Sie wird daran zugrunde gehen«, sagte er.
»Das ist möglich. Aber sehr unwahrscheinlich.«
Nur bedeutende Ärzte können so zynisch präzise sein.
Atterdel war der bedeutendste.
»Sagen wir so, Baron: Sie können dieses Mädchen noch jahrelang hier drinnen behalten, sie auf weißen Teppichen laufen und unter lauter schwebenden Menschen schlafen lassen. Aber eines Tages wird eine Gemütsbewegung, die Sie nicht vorhersehen können, sie mit sich fort nehmen. Amen. Oder aber Sie gehen das Risiko ein, folgen meinen Verordnungen und hoffen auf Gott. Das Meer wird Ihnen Ihre Tochter zurückbringen. Tot, kann sein. Falls aber lebendig, wirklich lebendig.«
Zynisch exakt.
Der Baron rührte sich nicht von der Stelle, den Brief in der Hand, auf halber Strecke zwischen sich und dem schwarz gekleideten Arzt.
»Sie haben keine Kinder.«
»Diese Tatsache ist völlig bedeutungslos.«
»Jedenfalls haben Sie keine.«
Er betrachtete den Brief und legte ihn zögernd auf den Tisch.
»Elisewin soll hierbleiben.«
Stille, einen Augenblick lang, aber nur einen Augenblick.
»Das kommt überhaupt nicht in Frage.«
Das war Pater Pluche. In Wirklichkeit war der
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