Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
Satz, der in seinem Gehirn losging, weitaus umfangreicher und ähnelte mehr einem Satz wie: »Vielleicht sollte man jegliche Entscheidung aufschieben und erst einmal gründlich darüber nachdenken, was …«: so in etwa. Doch die Aussage: »Das kommt überhaupt nicht in Frage« war die eindeutig geschicktere und schnellere Aussage und hatte keine große Mühe, durch die Maschen der anderen Wörter hindurchzuschlüpfen und an der Oberfläche des Schweigens aufzutauchen wie eine unvorhergesehene und unvorhersehbare Boje.
»Das kommt überhaupt nicht in Frage.«
Es war das erstemal in sechzehn Jahren, daß Pater Pluche es wagte, dem Baron in einer das Leben Elisewins betreffenden Angelegenheit zu widersprechen. Er verspürte einen seltsamen Taumel: als hätte er sich soeben aus dem Fenster gestürzt. Er war ein Mann mit einem gewissen Sinn fürs Praktische: Da er nun schon einmal in der Luft schwebte, entschloß er sich, es mit dem Fliegen zu versuchen.
»Elisewin wird bis ans Meer fahren. Ich werde sie hinbringen. Und falls es nötig ist, werden wir monate- oder jahrelang dort bleiben, so lange, bis sie die Kraft findet, sich dem Wasser und allem anderen zu stellen. Und am Ende wird sie zurückkommen: lebendig. Jede andere Entscheidung wäre eine Dummheit, schlimmer noch, Feigheit. Und wenn Elisewin Angst hat, dürfen wir nicht auch welche haben; ich jedenfalls werde keine haben. Sie ist nicht darauf aus zu sterben. Leben, das ist es, was sie will. Und was sie will, soll sie bekommen.«
Er redete, Pater Pluche, daß es kaum zu glauben war. Nicht zu glauben, daß er es war, der so redete.
»Sie, Doktor Atterdel, Sie haben nicht die geringste Ahnung von Menschen und von Vätern und von Kindern, nicht die geringste. Und deshalb glaube ich Ihnen. Die Wahrheit ist immer unmenschlich. Wie Sie. Ich weiß, daß Sie sich nicht irren. Ich bedaure Sie, aber Ihre Worte bewundere ich. Und ich, der ich das Meer nie gesehen habe, werde bis ans Meer reisen, weil Ihre Worte es mir gesagt haben. Es ist das Absurdeste, Lächerlichste und Sinnloseste, was mir je vorgekommen ist. Aber ich lasse mich von keinem Menschen in den gesamten Ländereien von Carewall davon abhalten. Von niemandem.«
Er nahm den Brief vom Tisch und steckte ihn in seine Tasche. Sein Herz schlug wie verrückt, die Hände zitterten ihm, und in seinen Ohren war ein merkwürdiges Rauschen. Darüber braucht man sich nicht zu wundern, dachte er: Es kommt nicht alle Tage vor, daß einem das Fliegen gelingt.
Alles mögliche hätte in dem Augenblick passieren können. Wirklich, es gibt Momente, in denen die allgegenwärtige, logische Vernetzung von Ursache und Wirkung vom Leben überrumpelt wird und kapituliert, die Bühne verläßt und sich unter die Zuschauer mischt, damit oben auf der Bühne im Licht aufwirbelnder, unvermuteter Freiheit eine unsichtbare Hand im unendlichen Schoß der unzähligen Möglichkeiten angelt und von allen denkbaren nur eine herausfischt. Im schweigenden Dreieck der drei Männer zogen sie alle vorbei wie in einer Prozession, blitzschnell, die abertausend Dinge, die dort hätten hochfliegen können, bis, nachdem sich das Aufblitzen und der Staub gelegt hatten, ein einziges, winziges, im Rahmen der Zeit und des Raumes erschien und mit der gebotenen Diskretion darauf drängte, sich zu verwirklichen. Und es geschah. Daß nämlich der Baron – der Baron von Carewall – zu weinen anfing, das Gesicht nicht einmal mit den Händen bedeckend, sondern einfach gegen die Rückenlehne seines prunkvollen Sessels sinkend, wie von Erschöpfung übermannt, aber auch befreit von einem enormen Gewicht. Ein gebrochener Mann, aber auch ein geretteter Mann.
Er weinte, der Baron von Carewall.
Seine Tränen.
Pater Pluche regungslos.
Doktor Atterdel wortlos.
Und nichts weiter.
Alles Dinge, von denen in den Ländereien von Carewall nie jemand etwas erfuhr. Aber alle ohne Ausnahme erzählen noch heute von dem, was anschließend geschah. Von der Zartheit, mit dem das Anschließende geschah.
»Elisewin …«
»Eine Wundertherapie …«
»Das Meer …«
»Es ist Wahnsinn …«
»Sie wird genesen, du wirst sehen …«
»Sie wird sterben.«
»Das Meer …«
Das Meer – das sah der Baron in den Aufzeichnungen der Geographen – war weit entfernt. Vor allem aber – das sah er in seinen Träumen – war es furchterregend, über die Maßen schön, schrecklich stark – unmenschlich und feindlich – wunderbar. Und es bedeutete fremde Farben, nie
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