Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
sein.«
»…«
»Ich will es nicht hören.«
Es ist eine schwierige Musik, das ist die Wahrheit, die Musik ist es, die schwer zu finden ist, um sich das zu sagen, so nah beieinander, die Musik und die Gesten, um die Qual aufzulösen, wenn wirklich nichts mehr zu machen ist, die richtige Musik, damit dieses Fortgehen irgendwie ein Tanz wird und kein Entreißen, ein Hinübergleiten zum Leben hin und fort vom Leben, welch seltsames Pendel der Seelen, befreiend und mordend; wenn man dazu tanzen könnte, würde es weniger schmerzen, und deshalb suchen alle Liebenden in dem Augenblick diese Musik in den Worten, auf dem Staub der Gesten, wohl wissend, daß, wenn sie den Mut dazu aufbringen würden, allein das Schweigen Musik wäre, eine klare Musik, ein breites, liebevolles Schweigen, Lichtung des Abschieds und müder See, der schließlich in die Spanne einer kleinen Melodie fließt, die seit jeher bekannt und mit leiser Stimme zu singen ist:
»Leb wohl, Elisewin.«
Eine winzige Melodie.
»Leb wohl, Thomas.«
Elisewin schlüpft unter dem Mantel hervor und steht auf. Mit ihrem nackten Mädchenkörper, an dem die milde Wärme einer ganzen Nacht haftet. Sie hebt ihre Kleider auf, geht zum Fenster. Die Außenwelt ist immer noch da. Du kannst machen, was du willst, aber du kannst gewiß sein, daß du sie immer an ihrem Platz vorfindest, immer. Man kann es kaum glauben, aber es ist so.
Zwei nackte Mädchenfüße. Sie steigen die Treppe hinauf, betreten ein Zimmer, gehen zum Fenster, bleiben stehen.
Die Hügel ruhen. So, als hätten sie gar kein Meer vor sich.
»Morgen reisen wir ab, Pater Pluche.«
»Wie bitte?«
»Morgen. Wir reisen ab.«
»Aber …«
»Bitte.«
»Elisewin … das kann man doch nicht so von einem Augenblick zum anderen entscheiden … wir müssen nach Daschenbach schreiben … du denkst doch nicht etwa, daß sie dort den ganzen heiligen Tag bloß auf uns warten …«
»Wir fahren nicht nach Daschenbach.«
»Was soll das heißen, wir fahren nicht nach Daschenbach?«
»Daß wir da nicht hinfahren.«
»Elisewin, laß uns die Ruhe bewahren. Wir sind bis hierher gekommen, weil du dich behandeln lassen sollst, und um dich behandeln zu lassen, mußt du ins Meer gehen, und um ins Meer zu gehen, mußt du nach …«
»Ich bin schon ins Meer gegangen.«
»Bitte?«
»Ich habe nichts mehr, von dem ich genesen müßte, Pater Pluche.«
»Aber …«
»Ich bin lebendig.«
»Jesus … was zum Teufel ist geschehen?«
»Nichts … du mußt mir nur vertrauen … ich bitte dich, du mußt mir vertrauen …«
»Ich … ich vertraue dir, aber …«
»Dann laß mich von hier fortfahren. Morgen.«
»Morgen …«
Da steht er nun, Pater Pluche, und dreht und wendet sein Staunen in den Händen. Tausend Fragen im Kopf. Er weiß genau, welche er zu stellen hätte. Wenige Worte. Klare Worte. Ganz einfach diese: »Und was wird dein Vater dazu sagen?« Ganz einfache Worte. Trotzdem gehen sie ihm unterwegs verloren. Keine Chance, sie zurückzuholen. Er ist noch mit der Suche beschäftigt, als Pater Pluche seine eigene Stimme fragen hört:
»Und wie ist es? … Wie ist das Meer?«
Elisewin lächelt.
»Sehr schön.«
»Und sonst?«
Elisewin hört nicht auf zu lächeln.
»An einem gewissen Punkt hört es auf.« Frühmorgens reisten sie ab. Die Karosse eilte über die Straße, die am Meer entlangführte. Pater Pluche ließ sich auf seinem Sitz mit der gleichen heiteren Ergebenheit hin und her rütteln, mit der er die Koffer gepackt, sich von allen verabschiedet, sich ein zweites Mal von allen verabschiedet und vorsätzlich vergessen hatte, einen Koffer aus der Pension mitzunehmen, denn einen Vorwand zurückzukehren sollte man immer parat haben, wenn man abreist. Man kann nie wissen. Er verhielt sich schweigend, bis er sah, daß die Straße eine Biegung machte und das Meer hinter sich ließ. Keine Sekunde länger.
»Wäre es zuviel verlangt zu fragen, wo wir eigentlich hinfahren?«
Elisewin hielt einen Zettel fest in der Hand. Sie blickte flüchtig darauf.
»Saint Parteny.«
»Und was ist das?«
»Ein Ort«, sagte Elisewin und umschloß den Zettel in ihrer Faust.
»Ein Ort, wo denn?«
»Man braucht etwa zwanzig Tage. Er liegt auf dem Land in der Nähe der Hauptstadt.«
»Zwanzig Tage? Das ist ja Wahnsinn.«
»Sieh dir das Meer an, Pater Pluche, gleich verschwindet es.«
»Zwanzig Tage … Ich will hoffen, daß du einen triftigen Grund für eine derartige Reise hast …«
»Gleich ist es verschwunden
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