Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
…«
»ELISEWIN! Wo ist Elisewin geblieben? Meine Laterne …«
»Pater Pluche, gehen Sie weg da.«
»Mir ist die Laterne ausgegangen.«
»Zum Teufel, ich geh’ da rüber.«
»Kommen Sie, ich zünde Sie Ihnen wieder an.«
»Mein Gott, Elisewin, haben Sie Elisewin gesehen?«
»Sie wird mit Madame Deverià gegangen sein.«
»Aber sie war doch gerade noch hier, sie war hier …«
»Halten Sie die Laterne gerade.«
»Elisewin …«
»Ditz, hast du Elisewin gesehen?«
»DITZ! DITZ! Was zum Teufel ist bloß mit diesen Kindern passiert?«
»Hier … Ihre Laterne …«
»Ich blicke überhaupt nicht mehr durch.«
»Los, gehen wir.«
»Ich muß Elisewin finden …«
»Los, Pater Pluche, gehen wir, die anderen sind schon alle da vorne.«
»Elisewin … ELISEWIN! Guter Gott, wo bist du nur geblieben … ELISEWIN!«
»Schluß damit, Pater Pluche, wir werden sie schon finden …«
»ELISEWIN! ELISEWIN! Elisewin, ich bitte dich …«
Reglos, die erloschene Laterne in der Hand, hörte Elisewin in der Ferne ihren Namen, vermischt mit Sturm und dem Toben des Meeres. In der Dunkelheit sah sie, wie die kleinen Lichter vieler Laternen vor ihr sich kreuzten, ein jedes in seine eigene Reise am Rande des Sturms vertieft. In ihrem Geist verspürte sie weder Unruhe noch Angst. Ein ruhiger See war ganz plötzlich in ihrer Seele explodiert. Er hatte den gleichen Klang wie eine Stimme, die sie kannte.
Sie drehte sich um und machte sich bedächtig auf den Rückweg. Für sie gab es keinen Sturm mehr, keine Nacht und kein Meer. Sie ging, und sie wußte wohin. Das war alles. Ein wundervolles Gefühl. Wenn das Schicksal sich endlich erschließt und ein deutlich erkennbarer Weg wird, eine unverkennbare Spur und gezielte Richtung. Die unendliche Zeit der Annäherung. Das Herankommen. Man wünschte sich, sie möge nie enden. Die Geste, sich dem Schicksal in die Hand zu geben. Das ist eine tiefe Empfindung. Keine Konflikte mehr, keine Lügen. Zu wissen wohin. Und das Ziel erreichen. Was immer das Schicksal sein möge.
Sie schritt aus – und es war das Schönste, was sie je getan hatte. Sie sah die Pension Almayer näher kommen. Ihre Lichter. Sie ließ den Strand zurück, kam an die Schwelle, trat ein und schloß die Tür hinter sich, aus der sie zusammen mit den anderen vor wer weiß wie langer Zeit hinausgerannt war, ohne noch etwas zu ahnen.
Stille.
Ein Schritt nach dem anderen auf dem Holzboden. Sandkörnchen knirschen unter den Füßen. In einer Ecke Plassons in der Eile des Aufbruchs auf den Boden gefallener Mantel. In den Sesselkissen der Abdruck von Madame Deveriàs Körper, als sei sie gerade erst aufgestanden. Und in der Mitte des Zimmers, reglos, Adams. Der sie ansieht.
Ein Schritt nach dem anderen, bis sie bei ihm ist. Und ihm sagt:
»Du wirst mir nicht weh tun, nicht wahr?«
Er wird ihr nicht weh tun, nicht wahr?
»Nein.«
Nein.
Da
nahm
Elisewin
das Gesicht
des Mannes
in ihre Hände
und
küßte es.
In den Ländereien von Carewall würden sie am liebsten niemals aufhören, diese Geschichte zu erzählen. Wenn sie sie nur kennen würden. Niemals würden sie damit aufhören. Jeder auf seine Weise, aber alle würden immer weitererzählen von den beiden und von einer ganzen Nacht, die sie damit verbrachten, sich gegenseitig mit Lippen und Händen das Leben zurückzuschenken, ein Mädchen, das nichts, und ein Mann, der zuviel erlebt hatte, der eine in der anderen – jede Handbreit Haut eine Entdeckungsreise, eine Heimkehr – in Adams Mund den Geschmack der Welt kosten und ihn auf Elisewins Brust vergessen – im Schoß jener rastlosen Nacht, im schwarzen Unwetter, Schaumflocken im Dunkel, Wellen wie herabstürzender Ballast, Getöse, dröhnende Windstöße, rasende, mit wüster Geschwindigkeit über den Wasserspiegel auf die Nerven der Welt geschleuderte Töne, Ozean Meer, triefender, außer sich geratener Koloß – Seufzer, Seufzer in Elisewins Kehle – schwebender Samt – Seufzer bei jedem neuen Schritt in die Welt über nie gesehene Berge und Seen von undenkbaren Konturen – auf Adams Leib die weiße Last jenes sich zu lautloser Musik wiegenden Mädchens – wer hätte je gedacht, wie weit man sehen kann, wenn man die Augen eines Mannes küßt – wenn man die Beine eines Mädchens streichelt, wie schnell man laufen und fliehen kann – von allem fliehen – weit sehen – sie kamen von den beiden äußersten Enden des Lebens, das ist das Erstaunliche, und hätten, um zueinander zu finden, das
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