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Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Titel: Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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gesprochen.
    »Trotzdem«, sagte Michael, »die Gedichte selbst existieren, warum spielen dann Kleinigkeiten eine derartige Rolle? Ist es, Ihrer Argumentation zufolge, wichtig, wer sie geschaffen hat? Warum haben Sie den Künstler angebetet? Sie hätten die Gedichte anbeten müssen.«
    Auf Tuwja Schajs Gesicht zeigte sich Ungeduld. »Sie sind weniger klug, als ich dachte«, sagte er und machte eine abfällige Bewegung mit der Hand. Dann schaute er an Michaels Rücken vorbei aus dem Fenster. Michael schwieg und wartete.
    »Ich wollte ihm helfen«, fuhr Tuwja Schaj fort. »Ich wollte dasein, damit er die Werke schaffen könne, die ich ihm zutraute. Nicht weil er mein Freund gewesen wäre, sondern weil ich glaubte, er wäre schöpferisch. Als sich herausstellte, daß er das nicht war – daß er auf Kosten der Kunst betrogen hat –, stand ihm kein Platz mehr zu auf der Welt. Er hat die Privilegien des Künstlers genossen, ohne dafür etwas zu geben. Sie verstehen nichts! Er hat sich selbst in den Mittelpunkt gestellt.«
    »Aber Sie haben es in einem Anfall von Wut getan, Sie hatten nicht von Anfang an vor, ihn umzubringen. Wie verbinden Sie diese Haltung gegenüber der Kunst, diesen Kreuzzug, mit diesem spontanen Ausbruch?«
    Einen Moment lang war Tuwja Schaj verwirrt. Er betrachtete Michael forschend, dann zeigte sein Blick – fast widerwillig – so etwas wie Achtung.
    »Hinterher habe ich es bedauert«, sagte er. »Das ist das einzige, was ich bedauert habe. Sie verstehen, ich habe keinerlei Schuldgefühle. Nur daß ich jetzt kein Ziel habe, das ist alles. Aber ich habe keine Schuldgefühle.«
    »Vielleicht haben doch auch persönliche Motive eine Rolle gespielt?« sagte Michael langsam, die nachdenklichen Augen wieder auf Tuwja Schaj geheftet. Wieder erregte er Schajs Zorn. Mehr als alles wollte er verhindern, daß die Erhabenheit seines Motivs tatsächlich als solche erkannt würde.
    »Blödsinn!« schrie Tuwja Schaj. »Es hat kein persönliches Motiv gegeben. Ich habe verlangt, daß er öffentlich zugeben solle, was er getan hatte, und er hat gesagt, das sei absurd. Er lachte über die ganze Sache. Das ist es, was ich nicht geplant hatte, daß ich die Kontrolle verloren habe. Hätte er öffentlich alles bekannt, was er getan hatte, hätte er den Preis und das alles zurückgegeben, dann hätte ich ihn vielleicht nicht töten müssen. Aber wie dem auch sei, ich bedauere es nicht. Ich werde zwar dafür zahlen müssen, aber das macht mir nicht wirklich etwas aus. Die Leute sollen nur endlich verstehen, daß es in der Welt andere Menschen gibt, mit anderen Motiven als den gewöhnlichen, die nicht aus Neid oder Eifersucht handeln, aus Habgier, Rache und all den normalen Gründen heraus.«
    Mit väterlicher Stimme sagte Michael: »Vielleicht erzählen Sie mir genau, was vor sich gegangen ist?«
    Tuwja Schaj betrachtete ihn mißtrauisch. Michael achtete darauf, seinen Gesichtsausdruck nicht zu verändern, als er sagte: »Wir sprechen jetzt über Dinge, die Ihr Leben verändern werden, die ausschlaggebend dafür sind, ob Sie wegen eines geplanten Mordes im Gefängnis sitzen werden oder wegen Totschlags. Ich halte das für wichtig. Sie nicht?«
    Tuwja Schaj wischte sich über das Gesicht. Es war sehr heiß im Zimmer. Er schaute sich um, dann sprach er mit seiner monotonen Stimme weiter, die Michael aus den früheren Verhören so gut kannte.
    »Nachdem Ido zu mir gekommen war, nach dem Fakultätsseminar, und mir alles erzählt hatte, nachdem ich auch die Kassette gehört hatte, dachte ich über eine Konfrontation mit Scha'ul nach. Ich hatte, so wie alle, gesehen, daß Ido völlig durcheinander aus den Vereinigten Staaten zurückgekommen war, wußte aber nicht, warum. Ich hatte keine Ahnung. Ich war vollkommen schockiert bei dem Seminar, ich verstand nicht, was mit ihm los war. Er kam dann nachher zu mir und erzählte mir alles.«
    »Was genau hat er erzählt?« fragte Michael in einem möglichst gelassenen Ton.
    »Daß er bei Scha'ul zu Hause gewesen ist, ein paar Tage nach seiner Rückkehr. Er hatte Scha'ul von seinem Treffen mit Boris Singer erzählt, von allem, was er dort erfahren hatte.« Tuwja Schaj schwieg.
    »Und wie hat Tirosch reagiert?« fragte Michael.
    »Ido hat gesagt, er habe geschwiegen, ein ›tragisches Schweigen‹, aber wie ich Scha'ul einschätze, hat er nur seine nächsten Schritte überlegt«, sagte Tuwja Schaj bitter.
    »Warum hat Tirosch ihn nicht auf der Stelle umgebracht?« fragte Michael.
    Tuwja

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