Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
schwerfallen, sich nicht selbst anzuklagen.
Tuwja Schaj fuhr fort zu sprechen: »Banalitäten interessieren mich nicht, das Privatleben von Menschen wie Ihnen und mir. Was aber noch lange nicht heißt, daß ich ohne weiteres ins Gefängnis ginge, warum sollte ich? Aber meine Motive sind nicht die gleichen wie Singers Motive. Ich verstehe ihn zwar, aber er, der nicht ist wie ich, unterliegt den üblichen Gesetzen von fanatischen Anhängern. Ich war kein fanatischer Anhänger. Ich pfeife auf eure Konventionen, und der Mensch Scha'ul Tirosch hat mich nicht im geringsten interessiert. Ich war nicht eifersüchtig auf meine Frau und ich habe ihn nicht umgebracht, weil er sie verlassen hat, das hätte bedeutet, daß ich sie oder ihn oder mich selbst in den Mittelpunkt gestellt hätte, als fanatischer Anhänger irgendeines Menschen oder irgendeiner Theorie. Ich stelle mich nicht in den Mittelpunkt. Sie können noch nicht mal begreifen, daß ich mich nicht schuldig fühle. Sie glauben, daß ich ein Psychopath bin? Das bin ich nicht. Wenn ich ihn aus persönlicher Rache umgebracht hätte, würde ich mich schuldig fühlen. Ich habe keine Schuldgefühle. Ich bin sicher, daß ich das Richtige getan habe, obwohl niemand verstehen wird, wovon ich rede, aber daran bin ich gewöhnt. Es hat mich die ganzen Jahre nicht gestört, daß ich wie ein Schatten gewirkt habe. Glauben Sie, ich hätte nicht gewußt, was die Leute denken? Aber es gibt etwas, was größer ist als wir alle. Und es stimmt, was man Ihnen dort gesagt hat, daß sich die Menschen durch die Kunst über das Nichts der Welt erheben können, wenn man es einfach formulieren will, so habe ich mich ganz dem Echten, Wahren verschrieben. Sie können unmöglich meine Moral verstehen, Sie sind ein Vertreter der Polizei, der blinde Roboter des Gesetzes, Sie können das alles nicht verstehen.«
»Geben Sie mir eine Möglichkeit, es zu verstehen«, sagte Michael ruhig.
Tuwja Schaj schaute ihn zweifelnd an, doch das Bedürfnis zu sprechen nahm nun überhand. »Wissen Sie, warum die Tiere keine Moral haben?« fragte er. »Es stimmt nicht wirklich, daß sie keine Moral haben, sie sind in gewisser Weise moralisch, bei ihnen herrscht ein allem übergeordneter Wert: der Trieb der Arterhaltung. Fragen Sie irgendeinen Genetiker, er wird es Ihnen sofort erklären. Auch die Menschen haben den Trieb, die Art zu erhalten – die menschliche Rasse. Meist drückt er sich in Kindern aus, im Gebären, der Aufzucht der Brut. Es gibt wenige, ganz wenige, die sich dem Wahren hingeben können. Dieses Wahre, das einzig Wichtige in meinen Augen, das die Erhaltung der menschlichen Rasse betrifft, ist die Kunst. Es ist nicht wichtig, ob Tirosch ein positiver oder negativer Mensch war, ob ich ihn geliebt habe oder nicht, das alles ist nicht wichtig und tut nichts zur Sache. Glauben Sie etwa, Nietzsche sei naiv gewesen? Er predigte die menschliche Größe. Auch Nietzsche hätte Tirosch für ein Genie gehalten, und einem Genie stehen besondere Bedingungen zu. Aber als sich herausstellte, daß er kein Genie war, sondern ein mittelmäßiges Geschöpf, mußte ich die Dinge geraderücken. Der Welt zuliebe, den kommenden Generationen zuliebe. Das Geschöpf, das das Heilige besudelt hat, mußte vernichtet werden.«
Michael traute seinen Ohren nicht. Tastend prüfte er nach, ob das Aufnahmegerät wirklich arbeitete, und mit ruhiger Stimme sagte er: »Nun, das ist das alte Dilemma zwischen Kunst und Moral.«
»Ja«, bestätigte Tuwja Schaj und wischte sich mit der Hand über die Lippen.
»Das heißt«, fuhr Michael fort, »wir kehren zu der banalen Frage zurück, ob einem Genie erlaubt sein darf, moralische Gesichtspunkte zu verletzen – zu lügen, zu betrügen und so weiter.«
»Wenn Tirosch ein wirklicher Künstler gewesen wäre«, sagte Tuwja Schaj, »dann wäre es wirklich das wenigste gewesen, ihm meine Frau zu überlassen. Auch mich selbst, wenn er das gewollt hätte, es wäre egal. Die Welt hat ohnehin keine Bedeutung, wenn es keine große Kunst gibt. Sie ist das einzige, was die Menschheit weiterbringt, deshalb hat das Leiden des einzelnen keinen Wert. Ich habe ihn getötet, weil er die Menschheit nicht weitergebracht hat. Nicht nur das, ich habe ihn umgebracht, weil er die große Kunst beschmutzt hat. Mein ganzes Leben habe ich dem Erhabenen gewidmet, das war die Berechtigung für meine Existenz. Das werden nicht nur Sie nicht verstehen, das versteht niemand.« Er hatte mit einem abgrundtiefen Zorn
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