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Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Titel: Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Alles. Ich hatte keinerlei Zweifel, daß ich ihn dazu bringen würde, das Richtige zu tun. In meiner Naivität hatte ich sogar angenommen, er wäre erleichtert über die Möglichkeit, ein Bekenntnis ablegen zu können. Ich weiß nicht, was ich gedacht habe, mir ist einfach nicht in den Sinn gekommen, daß er die Frechheit hätte, sich zu weigern. Hybris, wir alle leiden an der Hybris.«
    Wieder schwieg Tuwja Schaj lange, und sein Gesicht war völlig ausdruckslos.
    »Und dann haben Sie ihm die Kassette vorgespielt?« sagte Michael langsam.
    »Nicht sofort. Wir saßen bei ihm im Zimmer, und er sagte, er müsse gehen, und drückte mir die Sachen in die Hand, die ich Adina geben sollte. Er hat sich benommen, als sei er sicher, daß ich weiterhin sein Laufbursche sein würde. Ich sagte: ›Bist du sicher, daß ich auch weiterhin dein Laufbursche sein werde?‹ Er schaute mich an, als sei ich verrückt geworden. Und dann habe ich ihn gefragt, ob er glaube, daß ein großer Künstler das Recht habe, sich selbst als jemanden zu betrachten, der keiner Moral unterworfen sei. Er hat sein übliches ironisches Gesicht gemacht, das mich vorher nie gestört hatte, mich aber in diesem Moment sehr wütend machte. Ich habe eine ernsthafte Antwort verlangt. Er hat mich angeschaut, als sei ich krank, als müsse man vorsichtig mit mir umgehen, und dann hat er gesagt: ›Du willst wissen, ob ein Künstler der Moral unterworfen werden solle oder ob die Kunst der Moral untergeordnet werden solle?‹ Und dann sagte er, wir hätten doch schon so oft darüber gesprochen, und jetzt habe er keine Zeit.«
    Wieder schwieg Tuwja Schaj, dann wandte er sich an Michael und fragte: »Was denken Sie über Moral und Kunst?«
    Michael war die Kehle wie zugeschnürt. Einen Moment lang erwog er zu lächeln und sich mit einer witzigen Gegenfrage aus der Affäre zu ziehen. Doch dann sah er Tuwja Schajs erwartungsvolles Gesicht vor sich und begriff, daß er ernsthaft antworten mußte, wenn er ein Geständnis haben wollte. Und es gab nichts, was er lieber wollte als ein unterschriebenes Geständnis. Von allen Gesprächen, die er im Laufe seiner Ermittlungen schon geführt hatte, war dies das verrückteste gewesen, sagte er später zu Schorr. Diese Frage war die letzte, die er während einer polizeilichen Ermittlung erwartet hätte. Aber er habe keine Wahl gehabt, sagte er entschuldigend zu Imanuel, er habe sie ernsthaft beantworten müssen, ohne Ausrede, weil Tuwja Schaj ihn prüfte.
    »Am Anfang«, sagte Michael später zu Schorr, »habe ich überlegt, ihm die Frage zurückzugeben, zu sagen: Was ist denn Ihre Meinung? Aber dann habe ich gesehen, daß er bei meinem ersten Versuch zu tricksen, beim ersten abfälligen Wort, nichts mehr sagen würde. Deshalb hatte ich keine Wahl.« Schorr hörte sich die Aufnahme des Verhörs an, und zu Michaels Erleichterung fing er nicht an zu spotten.
    »Ich glaube nicht, daß man zwischen Kunst und Künstler trennen muß«, sagte Michael mit ernstem Gesicht.
    »Was heißt das?« fragte Tuwja Schaj, als befände er sich in einem Seminargespräch.
    »Das heißt, daß das, was Sie über Nietzsche gesagt haben, sich von dem unterscheidet, was ich immer gedacht habe. Sehen Sie, das sind natürlich keine Themen, über die ich jeden Tag nachdenke. Ich weiß nicht, ob ich genau formulieren kann, was ich meine.« Er schwieg, bemüht um Konzentration. Er war verlegen und fühlte, daß das, was er sagte, eine gewisse Ernsthaftigkeit und Tiefe aufweisen mußte. »Für mich spielt Kunst nicht dieselbe Rolle ... nicht daß sie mir nicht wichtig wäre, doch, sie ist mir wichtig. Aber ich bin sicher, daß sie mir nicht dasselbe bedeutet wie Ihnen. Überhaupt, ich glaube, daß die Liebe zu anderen das wichtigste Motiv für konstruktives Handeln ist.« Es wurde still. Tuwja Schaj wartete auf die Fortsetzung, und Michael fragte sich: Glaube ich das wirklich? Wer sagt denn, daß ich das tatsächlich glaube? Laut fuhr er fort: »Ich glaube also, daß es für einen großen Künstler wichtiger ist zu lieben, als geliebt zu werden, im Einzelfall und im allgemeinen. Ein Schriftsteller, der nicht von diesem Bedürfnis getrieben wird, kann nicht das Mitgefühl aufbringen, das notwendig ist, um eine Figur aus Fleisch und Blut zu schaffen.« Er erinnerte sich an einen Satz, den er einmal in einem Vorwort über Literatur des Mittelalters gelesen hatte: »Sogar Kafka, der die menschliche Existenz im Absurden gezeigt hat, sogar er hat eine ganze Welt

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