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Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Titel: Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Schaj kniff die Augen zusammen. »Sie meinen damals? Als Ido bei ihm war? Bei ihm zu Hause?«
    Michael nickte. »Wie konnte er ihn mit einer solchen Information herumlaufen lassen? Wie konnte er mehr als einen Monat warten, bis zum Tauchen? Das scheint mir unlogisch zu sein.«
    »Sie haben Ido nicht gekannt. Am Ende des Gesprächs hat Scha'ul gebeten, Ido solle ihm noch etwas Zeit lassen. Er mußte ihm versprechen, kein Wort davon zu sagen, bis er, Tirosch, entschieden hätte, wie ›wir das Problem lösen‹. Ido hat es versprochen. Wer Ido gekannt hat, wußte, daß man sich vollkommen auf ihn verlassen konnte. Er hielt seine Versprechen.«
    »Das heißt«, überlegte Michael laut, »daß Tirosch Ihrer Meinung nach auf eine günstige Gelegenheit gewartet hat? Hat er von dem Tauchen gewußt?«
    »Wer Ido näher kannte, wußte, daß er am Ende des Studienjahres nach Eilat fahren wollte, um den Kurs abzuschließen. Sogar ich wußte das.«
    »Und warum hat Ido es Ihnen erzählt? Trotz seines Versprechens?«
    »Das weiß ich nicht«, sagte Tuwja Schaj mit gebrochener Stimme. »Er hat es nicht ausgehalten.«
    Michael seufzte. »Was war, als Ido zu Ihnen kam?«
    Eine ganze Weile blieb es still, bis Tuwja Schaj wieder anfing zu sprechen. »Ido ist zu mir gekommen. Natürlich habe ich es erst einmal nicht geglaubt. Meine Bedürfnisse beherrschten mich. Aber nur ein paar Minuten lang. Bis er mir die Kassette vorspielte, die er mitgebracht hatte. Ido fragte Boris Singer, ob er ihm ein paar Gedichte Ferbers aufs Band sprechen könne, aus dem Gedächtnis, und Boris Singer begann, Scha'uls Gedichte zu deklamieren – nur daß sie nicht von Scha'ul waren. Da habe ich es endlich geglaubt. Ich hatte keine Wahl. Vor allem die Änderungen haben mich überzeugt. Boris sagte Namen und Orte, die Scha'ul geändert und den hiesigen Verhältnissen angepaßt hatte. Ferbers Birken waren zu Kiefern geworden, und die großen Bären zu Schakalen. Ido behauptete, ich sei der Mensch mit der größten Berechtigung und der größten Macht, Tirosch entgegenzutreten und die Wahrheit ans Licht zu bringen. ›Du wirst die Wahrheit ans Licht bringen‹, hat er in jener Nacht gesagt, und den Satz so oft wiederholt, bis ich ihn im Kopf hatte. Danach hörte ich den Satz den ganzen Tag und die ganze Nacht. Auch jetzt, wenn ich an Ido denke, höre ich die erstickte Stimme, mit der er den Satz sagte. Ich habe Ido versprochen, daß die Wahrheit ans Licht käme. Ido verlangte es ›um Ferbers willen‹, aber bei mir lag das Motiv tiefer. ›Um der Wahrheit willen, um der Kunst willen‹, habe ich zu ihm gesagt. Ich habe danach stundenlang das Haus nicht verlassen. Immer wieder habe ich die Gedichte gelesen, auch die Einleitung, die Tirosch zu Ferbers Buch geschrieben hat. Plötzlich kam mir alles so albern vor, wie konnte man mit solchen Dingen seinen Spaß treiben, fragte ich mich, wie konnte man so lügen und betrügen, und wofür? Im Vergleich dazu halte ich Mord wirklich für eine Kleinigkeit. Es tut mir nicht leid.«
    In der Stille, die sich über das Zimmer senkte, konnte man auf dem Korridor Schritte hören. Das Telefon klingelte, doch Michael ignorierte es.
    Die Stille zog sich in die Länge, und Tuwja Schaj sah aus, als versinke er in sich selbst, als habe er vergessen, wo er sich befand. Deshalb sagte Michael: »Und dann sind Sie zu ihm ins Zimmer gegangen, nach dem Mittagessen.«
    »Ja«, bestätigte Tuwja Schaj, und als sehe er das Bild vor sich, fügte er seufzend hinzu: »Die Fakultätssitzung ist mir schwergefallen. Ihn so entblößt zu sehen, seine Manieriertheiten anzuhören, zu wissen, daß das mit nichts begründet war, und trotzdem zu schweigen, das war schwer. Aber er war so versunken in seine Angelegenheiten, daß er kein Wort über meine Schweigsamkeit verlor. Beim Mittagessen sprach er über Ido. ›Eine Krise‹, ›angespannte Nerven‹, das sind die Worte, die er benutzt hat. Nie werde ich vergessen, wie er zu mir sagte, wie ein Klatschweib: ›Er hat sogar Halluzinationen, aber ich möchte nicht ins Detail gehen.‹ Er kam nicht auf die Idee, daß ich schon Bescheid wußte. Er sagte, es könne sein, daß man Ido aus dem ganzen Universitätsbetrieb ein bißchen raushalten müsse, weil die Doktorarbeit ihn ganz fertig mache. Ich saß ganz ruhig da und antwortete nicht. Das waren die schlimmsten Stunden. Aber ich wollte mit ihm allein im Zimmer sein. In den Tagen, nachdem Ido mir alles erzählt hatte, hatte ich die Konfrontation geplant.

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