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Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Titel: Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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erschaffen. Und sagen Sie mir nicht, daß Sie bei ihm kein Erbarmen finden. Ich kenne kein Kunstwerk, das mir gefallen hat, das nicht – offen oder versteckt – auf dem basierte, was Sie, die Literaten, Liebe zu und Erbarmen mit den Menschen nennen.« Er schwieg und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. »Ich glaube auch, daß jedes große Kunstwerk immer auch eine Option für das Leben ist.« In Tuwjas Gesicht war der Schatten eines ironischen Lächelns zu sehen. Er zog die Augenbrauen hoch, sagte jedoch kein Wort. Michael bemerkte die leichten Veränderungen, fuhr aber mit derselben Ernsthaftigkeit fort: »Sogar im Absurden. Sie führen das Absurde als Axiom an und zeigen die Erniedrigung und das alles, damit wir uns im Spiegel sehen und unser Leben auf dieser absurden Welt verändern. Meiner Meinung nach verlangt das ein hohes Maß an Moral. Vielleicht noch mehr als sonst. Man muß im Dreck stecken und wissen, daß es Dreck ist. Wer nicht moralisch ist, weiß nicht, daß es sich um Dreck handelt. Wenn jemand vollkommen zynisch ist, dann kann er seine Welt und sein Leiden nicht auf eine Art zeigen, die andere erschüttert.«
    Tuwja Schaj schaute Michael an und schwieg. In seinen Augen leuchtete noch immer das, was Michael Schorr gegenüber später als einen »gefährlichen Blick« bezeichnete.
    »Das ist es, was ich wirklich denke. Ohne Beziehung zu Nietzsche«, sagte Michael und fragte sich, ob der Mann ihm gegenüber vorhabe, sich auf ihn zu stürzen.
    Aber Tuwja Schaj bewegte sich nicht, er blickte Michael ruhig an. »Das ist eine sehr naive Sicht der Dinge. Ich bin ganz anderer Ansicht. Ich glaube nicht, daß Sie Nietzsche verstanden haben, auch andere Werke haben Sie nicht verstanden. Aber das war nicht schlecht für jemanden, der bei der Polizei arbeitet.«
    Es gab Dinge, über die Michael später nie mit jemandem sprach, auch nicht mit Schorr. Viele Tage lang dachte er immer wieder an das, was Tuwja Schaj gesagt hatte. Und jedesmal stellte er sich wieder die gleiche Frage: War etwas dran an seinen Worten? Wer von ihnen beiden hatte recht, fragte er sich, ohne zu einer Antwort zu gelangen. Eines wußte er jedoch schon während des Verhörs genau: Das, was Tuwja Schaj sagte, war nicht verrückt. Obwohl er von dem, was er zu Tuwja Schaj sagte, überzeugt war, wußte er, noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, daß es in der Realität, in der Geschichte, Dinge gegeben hatte, die Tuwjas Standpunkt rechtfertigten. Auch später konnte er keine klaren Schlüsse ziehen.
    »Ich weiß, daß Sie anderer Meinung sind«, sagte Michael Ochajon, »und ich weiß, daß Sie von uns beiden derjenige sind, der etwas von Ästhetik versteht.«
    »Es ist nicht nur eine Frage der Ästhetik und der Ethik. Es ist eine Frage, was ich bereit bin, für eine Sache zu tun, die mir wichtig ist, und was Sie bereit sind zu tun. Sie arbeiten hier«, Tuwja Schaj machte eine Armbewegung, die das ganze Zimmer einschloß, »und Sie leben hier Ihr kleines Leben und glauben, daß Sie etwas verändern. Ich hingegen wäre bereit, mein ganzes Leben hinzugeben, mich zu Staub zu machen für das, was mir wichtig ist.«
    »Es ist aber eine Tatsache, daß Sie sich nicht beherrschen konnten.« Michael versuchte, das Gespräch auf die Mordszene zurückzubringen.
    »Es ist nicht so, daß ich mich nicht beherrschen konnte.« Tuwja Schaj tappte so schnell in die Falle, daß Michael begriff, wie groß sein Bedürfnis zu sprechen war, nun, nachdem die Mauer des Schweigens gefallen war. »Wenn Scha'ul bereit gewesen wäre, der Wahrheit zuliebe die Strafe auf sich zu nehmen«, sagte Tuwja Schaj, »wenn er verstanden hätte, wovon ich sprach, hätte ich ihn in Ruhe gelassen. Aber er hat gelacht. Ich habe ihm die Dinge erklärt, und er hat gelacht. Als ich ihm die Kassette vorspielte, die Ido mitgebracht hatte, hörte er auf zu lachen. Er hatte einen Kassettenrecorder im Zimmer, er hat manchmal seine Vorträge aufgenommen. Ich spielte ihm vor, wie Boris Singer seine Gedichte las, und da lachte er schon nicht mehr. Aber er hatte einen Ausdruck im Gesicht, so etwas vorsichtig Verschlagenes, wie er ihn manchmal hatte, wenn er es auf eine Frau abgesehen hatte. Er sagte: ›Tuwja, du warst immer verrückt. Nicht alle wissen es, aber ich weiß, daß du verrückt bist. Nichts ist so wichtig, daß es meine Zerstörung rechtfertigen würde. Ich habe gedacht, daß du mich liebst.‹ Das hat er gesagt. Und da habe ich kapiert, daß auch er nichts versteht und daß er glaubt,

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