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Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren

Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren

Titel: Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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gedacht habe«, sagte Mojsch aufgeregt. »Mich trifft der Schlag, die Flasche ist genau da, wo ich sie vermutet habe. Schau doch! Ich habe mich einfach in den Kopf desjenigen versetzt, der das getan hat.« Er hockte sich auf die braune, geborstene Erde, nicht weit von dem Müllhaufen, die silbrige Flasche vor seinen zitternden Füßen. Jojo stand schweigend neben ihm. Seine heftigen, lauten Atemzüge klangen Mojsch in den Ohren wie Gewitter. Er hob den Kopf und schaute Jojo an, der aufgehört hatte zu schwitzen, ohne Unterlaß seine Handflächen rieb und immer schneller atmete. Dann setzte er sich neben Mojsch auf die harte Erde.
    »Was machen wir jetzt?« fragte Jojo flüsternd. Mojsch antwortete nicht. Er kämpfte gegen ein erstickendes Gefühl, das ihm das Atmen schwer machte. Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen, und die Stimme Jojos, der immer wieder »Was machen wir jetzt?« flüsterte, drang wie aus weiter Ferne an seine Ohren. Er meinte noch andere Geräusche zu hören, Zimbeln und ein Sausen, wie wenn man aus großer Höhe herunterfällt. Jojo nahm die Brille ab und legte sie neben sich auf die Erde. Dann seufzte er tief und sagte: »Es stimmt wirklich, Mojsch, es war jemand von uns, einer, der sich hier auskennt. Daran läßt sich nichts ändern.«
    Mojsch brachte kein Wort heraus. Er spürte, wie ihm Schweiß über den Rücken rann und wie seine Hände feucht wurden. »Die ganze Zeit habe ich gehofft«, sagte Jojo, »ich habe gehofft, daß ... Ach, was weiß ich. Ich habe gedacht, daß vielleicht ...« Er schwieg lange, dann sagte er noch einmal: »Was machen wir jetzt?«
    Mojsch betrachtete seine Hände, die auf der Erde lagen, und er sah die Ameisen, die unter seinem Unterschenkel herumwimmelten, sah, wie sie sich in einem langen Zug vorwärtsbewegten, dann sagte er heiser: »Ich weiß es nicht, ich wünschte ...« Auch er ließ den Satz unvollendet. Ich wünschte, ich wäre nicht da, am liebsten würde ich verschwinden, in diesen Ameisenhügel hineinkriechen und nie wieder herauskommen. Das war es, was er dachte, aber nicht aussprach.
    Endlich fand er die Kraft, sich zu erheben. Er nahm die Flasche und betrachtete sie prüfend. Der Kork fehlte, die Flasche war leer.
    »Wieviel war eigentlich drin?« fragte Jojo, als könne er Mojschs Gedanken lesen.
    »Keine Ahnung, das war die einzige Flasche, die übriggeblieben ist. Ich weiß nur, daß Srulke gesagt hat, die Flasche wäre fast leer und ich solle ihm eine neue aus Tel Aviv mitbringen, weil man seit der Intifada nicht in die besetzten Gebiete fahren könne, um das Zeug zu kaufen, oder ich solle jemand anderen darum bitten, eine mitzubringen. Er brauchte es wegen der Blattläuse. Das war die letzte Flasche, und wie ich Srulke kenne, hat er schon in dem Moment, wo er sie aufgemacht hat, zu mir gesagt, ich solle ihm eine neue besorgen. Er wollte nicht riskieren, daß ihm das Zeug ausgeht.«
    »Angenommen, sie war voll«, sagte Jojo nachdenklich, »was ist dann mit dem Inhalt passiert? Die Flasche ist hier. Was ist mit dem Rest passiert?« Er stand auf.
    »Es gibt zwei Möglichkeiten«, antwortete Mojsch und starrte zum Horizont. »Entweder der Inhalt ist verbrannt, oder er wurde in ein anderes Gefäß umgeschüttet. Das ist jetzt nicht unser Problem. Der Polizist hat gesagt, wir sollen die Flasche finden, er verlangt keine Theorien von uns.«
    »Mojsch«, sagte Jojo, »verstehst du nicht, was ich meine? Wenn was von dem Zeug übriggeblieben ist, kann man es auch noch benutzen. Begreifst du?«
    »Aber ich kann es doch nicht ändern, oder?« rief Mojsch in einem Ausbruch von Wut. »Was sollen wir machen? Sollen wir den ganzen Kibbuz einsperren? Sollen wir eine Sicha dafür abhalten? Was schlägst du denn vor?«
    »Eli Reimer ist beim Reservedienst, wir haben also kei nen Arzt«, sagte Jojo mit zunehmender Panik in der Stimme.
    »Doch«, sagte Mojsch, »morgen kommt jemand. Wir kriegen eine Krankenschwester geschickt. Morgen kommt sie.« Er schwieg einen Moment. »Ich kann so nicht leben«, sagte er dann. »Ich halte das nicht aus, daß ich niemandem mehr trauen darf, ich schaffe das einfach nicht. Und wenn ich an Osnat denke, möchte ich auch tot sein. Ich habe das Gefühl, im Dunkeln herumzulaufen, in einer Art Hölle, in der plötzlich alles anders ist, als es zu sein scheint. Ich komme damit nicht zurecht.« Mojsch bedeckte das Gesicht mit den Händen und rieb sich die vom Rauch brennenden Augen. »Du kannst mir glauben, ich weiß gar nichts mehr.«

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