Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
dachte Awigail, denn ich habe jetzt nicht den geringsten Grund, verzweifelt zu sein, es ist alles ganz anders. Die Arbeit hier ist kinderleicht, leichter als ihre Arbeit in der Spezialeinheit. Ich muß nur drei Stunden in der Ambulanz sein, mich um kleinere Probleme kümmern, Medikamente austeilen und mir alles anhören, ohne daß jemand mitbekommt, daß ich nicht das bin, was ich zu sein vorgebe. Trotzdem war diese Müdigkeit da, sie hatte sie ergriffen, als sie den weißen Schwesternkittel zuknöpfte, in dem sie nun steckte.
Als Awigail mit der Schwesternschule angefangen hatte, hatte sie bestimmte Vorstellungen von sich selbst – trotz allem, was sie über den Beruf gehört hatte und was ihr die Illusionen hätte rauben müssen –, wie sie in einem weißen Kittel herumlief, ein mildtätiger Engel, und Menschen gesund pflegte.
Sie hatte sich nicht vorstellen können, wie aufreibend alles war, wie die Last auf ihrem Herzen von Tag zu Tag schwerer werden würde. Sie hatte sich auch die Müdigkeit in den Nächten nicht vorstellen können, in denen sie – manchmal allein, manchmal mit einer anderen Schwester – für eine ganze Station verantwortlich war, für zweiundvierzig Patienten, wenn alle Betten belegt waren, manchmal sogar für mehr, wenn zusätzliche Kranke in den Fluren lagen, gedemütigt und nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie hatte nicht gewußt, obwohl sie es hätte wissen müssen, daß sie Frauen begegnen würde, die sich in ihre Bettdecken gewickelt hatten, um die Nachthemden zu verbergen, die niemals richtig paßten, auf der Suche nach einem zusätzlichen Kissen oder einem Laken. Was die Medien als »Krise im Gesundheitswesen« bezeichneten, wurde für Awigail eine Realität, die sie jeden Morgen nach dem Aufwachen erwartete, die Quelle einer ständig zunehmenden Verzweiflung, die jeden guten Willen und alle Kraft erstickte, sogar die Fähigkeit zum Mitleiden.
»Wieso ausgerechnet die Schwesternschule!« hatte ihre Mutter damals getobt. »Mit deinen Noten könntest du dir etwas Besseres und auch Leichteres aussuchen, du könntest sogar Medizin studieren. Wir haben immer gedacht, du würdest mal eine ernsthafte Karriere machen.« Aber Awigail hatte Krankenschwester werden wollen. Vermutlich wegen Esther, der jüngeren Schwester ihres Vaters. Esther war Krankenschwester gewesen. Sie war einsam in ihrer kleinen Wohnung in der Ben-Jehuda-Straße in Tel Aviv gestorben, einer kleinen, alten Wohnung, vollgestopft mit Erinnerungen und Fotografien mit Widmungen dankbarer Patienten, von denen sie einige umsonst gepflegt hatte. Es hatte Nächte gegeben, erinnerte sich Awigail, in denen Tante Esther an den Betten sterbender Patienten gewacht hatte, ihnen gut zuredete, ihnen Spritzen gegen die Schmerzen gab, ihre Hand hielt und mit ihnen wartete, daß die Nacht verging und ihre Angst vor Einsamkeit und Tod abnahm.
Viele Male hatte Esther Awigail erklärt, es gebe nichts Höheres, als einen Sterbenden zu begleiten und seine Einsamkeit mit ihm zu tragen. »Engel«, so hatten die Patienten Esther genannt, und wenn Awigail manchmal Esther in der Klinik besuchte und ihr bei der Arbeit zuschaute – manchmal durfte sie ihr sogar helfen –, hatten die Kranken wegen ihrer Ähnlichkeit gesagt: »Bist du ihre Tochter? Sie ist ein wahrer Engel.« Awigail hatte schon als kleines Kind von Florence Nightingale gehört, dem großen Vorbild Tante Esthers, und hatte deren Ehrfurcht und Bewunderung naiv und kritiklos übernommen. Erst als Awigail nach dem Tod Tante Esthers über ihr Leben nachdachte, fragte sie sich, warum ihre Tante sich für ein Leben allein entschieden hatte, für eine Einsamkeit ohne Bitternis.
Esther war das jüngste von sechs Kindern gewesen, von denen nur sie, die jüngste, und der älteste Sohn, Awigails Vater, überlebt hatten. Über den Krieg hatte Esther nie mehr gesagt, als daß sie für einen Moment das Haus verlassen hatte, um einen Freund bis zu seinem Haus zu begleiten (»Ein Goj«, meinte Awigail noch die Stimme ihrer Tante zu hören), und bei ihrer Rückkehr »waren alle schon tot«. Auch diese Geschichte hatte sie nur widerwillig preisgegeben, als ihre Nichte sie an einem Winterabend nach der Vergangenheit gefragt hatte. Über ihre Eltern und ihre toten Geschwister sprach sie nie. Und als sie einmal den Tag erwähnte, an dem der Krieg ausgebrochen war, hatte sie gesagt: »Man liebt nur einmal in seinem Leben, und das ist, wenn man sechzehn ist.«
Als Esther starb, war Awigail
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