Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
ohne daß sie sich frei genug fühlte, etwas Grundsätzliches zu ändern. Am schlimmsten waren die Nächte im Sommer. Durch das weit offene Fenster drang Lachen in ihr Zimmer, und die spontanen Geräusche von draußen brachten sie dazu, ihre selbstauferlegte Einsamkeit in einem seltsamen Licht zu sehen, so daß sie ihr fast grotesk vorkam.
Im letzten April waren die Straßen nach Petach Tikwa voll gewesen vom Duft nach Orangen und Akazien. Der Duft quälte sie nachts, und sie war oft von den Träumen, die ihre innere Gelassenheit bedrohten, aufgewacht. Der Mann, von dem sie träumte, war nun Michael Ochajon, der Leiter ihrer Abteilung bei der Sondereinheit. Auch wenn sie allein mit ihm war, hatten sie nie einen persönlichen Satz gewechselt, und sie wußte nicht das geringste über sein Privatleben.
So standen die Dinge, als Awigail zum Kibbuz kam, einen Tag, nachdem Ochajon die »Bombe hatte platzen lassen«, wie Jojo es mit zitternder Stimme formulierte, als er sie ins Sekretariat geführt hatte. Dort hatte Joske sie abgesetzt und ihr mit übertriebener Höflichkeit die Koffer aus dem Auto geholt. Jojo erwähnte mit keinem Wort die Ursache von Osnats Tod, murmelte jedoch etwas von einer Krise im Kibbuz und der Krisenintervention, die von offiziellen Stellen zur Verfügung gestellt wurde, und von der Polizei, die sich im Kibbuz herumtreibe und alle Leute nervös mache.
Als Awigail im Kibbuz angekommen war (»Was hast du da drin? Steine?« hatte Joske lachend gefragt, als er ihre Koffer aus dem Auto gehoben hatte, die voll waren mit Büchern, sechs Paar Jeans und sechs weiten weißen Män nerhemden), hatte sie gefühlt, wie ihre Ellenbogen brann ten, und noch bevor sie später in dem Zimmer, das man ihr zugewiesen hatte, die Ärmel hochrollte, hatte sie gewußt, daß sich die Ekzeme verschlimmert hatten. Auch die Flekken in ihren Kniekehlen, den Stellen, von denen ihre Mutter früher immer gesagt hatte: »Dort wachsen dir Kartoffeln, wenn du dich nicht mit Seife wäschst«, sahen schlimmer aus. Sie wußte nicht, ob der Gedanke an den weißen Kittel ihre Haut reizte, oder ob es Schorers Hinweis am vorigen Abend war, daß sie es mit einem ganzen Kibbuz im Schockzustand aufzunehmen habe.
Während sie nun den Medikamentenschrank kontrol lierte, spürte sie wieder den unerträglichen Juckreiz. Sie zog den Kittel aus und krempelte die Ärmel hoch. Die Flecken waren jetzt purpurrot und sahen schrecklich aus, häßlich. Sie öffnete ihre Tasche und holte die Tube mit der Cortisonsalbe heraus.
Eine Frau stürmte herein und blieb in der Tür zum Badezimmer stehen, wo sich Awigail die Hände mit Desinfektionsmittel wusch, um die Reste der Salbe loszuwerden. Schnell rollte sie die Ärmel wieder hinunter und streckte die Hand nach ihrem Kittel aus. Sie bemerkte den Dreck, den die schwarzen Gummistiefel der Frau auf dem glänzend geputzten Boden hinterließen, und hörte die Stimmen, die durch die offene Tür hereindrangen. Guta brüllte fast: »Man muß ihr etwas geben, aber sie nimmt nichts.«
»Was ist los?« fragte Awigail und blickte über die Schulter der Frau hinweg nach draußen. Mit ihrem professionellen Ton versuchte sie, ihr Erschrecken zu verbergen.
»Meiner Schwester geht es nicht gut«, sagte Guta und griff nach Awigails Hand. »Los, komm schon.«
Awigail ging hinaus. An der Tür zur Ambulanz stand Fanja, die Hand auf das Herz gedrückt. Sie stöhnte und atmete schwer.
»Sie braucht den Krankenwagen«, schrie Guta, »sie bekommt keine Luft.«
Auch später wußte Awigail nicht zu sagen, woher sie die Autorität genommen hatte, mit der sie Fanja in das Behand lungszimmer zog und sie auf die schmale Liege setzte, ihr die hohen Arbeitsschuhe und die Wollsocken auszog. Guta schlurfte hinter ihnen her. Ihre Adlernase war gerötet und hob sich scharf gegen das blasse Gesicht ab. Die grauen, kurzgeschnittenen Haare standen ihr nach allen Seiten ab. Immer wieder fuhr sie sich mit den großen Händen geradezu zwanghaft über den Kopf. Später sagte Awigail zu Michael, die beiden hätten ausgesehen wie zwei Hexen in einem Kinderbuch, das sie einmal gehabt habe. Sie hob Fanjas Füße an und legte sie auf ein dickes Kissen. Fanja klagte nicht über Schmerzen oder Übelkeit. Ihr Blutdruck war normal, und ihr Puls war schnell, aber regelmäßig. Nur das Atmen fiel ihr schwer.
»Ist es das Herz?« fragte Guta ehrfürchtig, während Awigail den Blutdruck maß und den Puls fühlte.
Awigail schaute sie an und sagte: »Ich
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