Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
dabei gedacht, als er beschlossen hat, sie einzuladen. Der Erziehungsausschuß hat gestern die ganze Nacht darüber beraten, und schließlich haben wir diesen Ausschuß auch dafür, daß er in Krisen die Verantwortung übernimmt.«
Awigail warf heimlich einen Blick in Dworkas Richtung und sah, wie sie mit ihren glühenden Augen die drei Frauen anfunkelte, die wie verlorene Kinder vor ihr standen.
»Unsere Aufgabe«, erklärte Dworka mit gelassener Autorität, »ist es, alle zu stützen, zu zeigen, daß man nicht so schnell zerbricht und daß das Leben weitergeht. Jeder soll seine Arbeit machen, sein alltägliches Leben weiterführen, dann werden wir die Situation gemeinsam meistern.«
Awigail, die neben den Brieffächern der Mitglieder stand, fühlte plötzlich, wie sich die Atmosphäre ent spannte, wie die Aggressionen gegen Se'ew Hacohen verschwanden, dessen Gesicht einen Ausdruck von Erschrekken und Abscheu zeigte. »Wir werden jetzt organisiert vorgehen«, sagte er. »Wir werden mit den kleinen Kindern anfangen und herausfinden, was sie gehört haben, was sie wissen und wie sie das alles aufnehmen.«
Als Awigail nach dem Mittagessen am Kindergarten vorbeiging, warf sie durch das Fenster einen Blick in den großen Raum. Dort saßen fünf ältere Frauen, zwei davon Psychologinnen und eine Sozialarbeiterin, über eine Gruppe kleiner Kinder gebeugt, die auf dem Boden lagen und in sich versunken malten. Awigail fiel auf, wie interessiert die Frauen die Kinder beobachteten, wie sie sich über die Bilder beugten und sich gegenseitig bedeutungsvolle Blicke zuwarfen, aber sie konnte nicht erkennen, daß die Bilder etwas anderes aufdeckten als das, was Kinderbilder normalerweise aufdecken. Sie zeigten nichts anderes als Häuser, Blumen und darüber den Himmel. Ein Junge, das konnte sie vom Fenster aus sehen, malte einen großen, grellgrünen Traktor und verzierte den Rand des Blattes mit Blumen.
Während der beiden Tage, die Awigail nun schon hier verbracht hatte, war der Kibbuz voll gewesen mit Polizi sten, die die Mitglieder zwar höflich, aber auch ausführlich verhörten. Manche Verhöre fanden im Kibbuz selbst statt, andere in den Räumen der Sondereinheit für Schwerverbrechen. Außerdem wurde nach den Resten des Parathion gesucht. Morgens erschienen uniformierte Polizisten und durchsuchten mit Erlaubnis der Mitglieder die Zimmer. Das Wort »Durchsuchungsbefehl« wurde nie benutzt, der ganze Kibbuz zeigte sich kooperativ.
Doch Awigail war überzeugt, daß diese Durchsuchungen keinen Erfolg bringen würden. Falls es überhaupt etwas zu finden gibt, dachte sie, während sie an Machluf Levi vorbeiging, der vor dem Sekretariat stand und leise zwei Polizisten etwas erklärte. Sie fragte sich, ob der Mörder vielleicht den Rest der Flasche einfach dort, an der Müllgrube, in die Erde geschüttet hatte. Vielleicht hatte er ihn ja auch in seinen Ausguß gekippt oder irgendwo anders weggegossen. Oder es war gar nichts übrig, was er loswerden mußte, nachdem er Osnat vergiftet hatte. Aber suchen mußte man, stimmte Awigail innerlich zu. In den frühen Morgenstunden, als sie die Ambulanz öffnete, sah sie ein paar Leute, die schweigend vor der Tür gewartet hatten. Sie lächelte professionell, wie solche Situationen es erforderten, und stellte sich plötzlich vor, daß sich das Parathion in einer Parfümflasche befand und eine gepflegte weibliche Hand abends vom Bett aus danach griff und es sich auf die nackte Haut tupfte, und Panik ergriff sie.
Sie war angesteckt von der allgemeinen Angst und dem Schrecken, die sie auf den Gesichtern der Mitglieder wahrnahm, im Speisesaal, im Vorzimmer der Ambulanz oder des Sekretariats sogar, auf den Wegen, die ihrer Erfahrung nach von Kindern und Fahrrädern nur so hätten wimmeln müs sen und nun ruhig dalagen.
In den beiden Nächten, die sie schon hier war, hatte sie sich von einer Seite auf die andere geworfen, und auch in ihr war die Angst gewachsen, daß jeder der Mörder sein konnte, buchstäblich jeder Mensch, den sie hier auf dem Weg zu ihrem Zimmer, zum Speisesaal, zum Kinderhaus traf, wohin sie auf Bitten einer Betreuerin ging, um die Kinder auf Läuse zu untersuchen (die Betreuerin ging wie selbstverständlich davon aus, daß es zu den Aufgaben der Krankenschwester gehörte, neben ihr zu stehen, wenn sie mit dem engzähnigen Kamm durch die Kinderhaare fuhr), auch auf ihren Wegen zum Blutdruckmessen, was zu den Vorwänden gehörte, die sie erfand, um überall hingehen und
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