Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
hinterlassen. Wenn Sie sich in diesem Fall nicht beeilen, und ich spreche jetzt nicht über die nationale Vereinigung der Kibbuzim, die Knesset oder Meros und den ganzen Aufruhr, sondern zugunsten der betroffenen Personen, dann werden Sie in wenigen Tagen die Reaktion der Leute zu spüren bekommen: Sie können die Anspannung nicht aushalten, sie werden zusammenbrechen. Stellen Sie es sich doch vor: Es ist, als würden Sie mit dem Gefühl herumlaufen, jemand aus Ihrer eigenen Familie wäre ein Mörder. Wir können nicht sagen, zu was das führt. Was werden Sie zum Beispiel tun, wenn einer von ihnen Selbstmord begeht? So etwas ist schon vorgekommen.«
Michael hatte etwas antworten wollen, doch Nahari hob die Hand und sagte: »Ich weiß, ich weiß, man hat dort jetzt alle möglichen Psychologen und so, aber es gibt Dinge, die wir nicht kontrollieren können. Außerdem werden Hasen, wenn der Druck zu lange dauert, immer gefährlicher. Sie müssen schnell etwas erreichen, zumindest brauchen Sie ein Motiv, wenn Sie schon nicht den ganzen Fall sofort lösen können. Man sagt doch, Sie seien sehr begabt und könnten wahre Wunder vollbringen.« Hier hatte Nahari seine lange Rede unterbrochen, um seine dicke Zigarre mit der Zunge zu befeuchten. Erst als er sie umständlich angezündet hatte, sprach er weiter: »Ich rede jetzt nicht davon, daß Sie Awigail dort eingeschleust haben. Wie lange wird es dauern, bis sich jemand daran erinnert, daß er sie schon einmal gesehen hat, hier oder anderswo? In diesem Land kann man solche Dinge nicht sehr lange geheimhalten. Irgend jemand hat mit ihrer Mutter schon auf dem Topf gesessen, irgend jemand hat sie auf dem Weg nach Petach Tikwa getroffen, irgend jemand wird Sie sehen, wenn Sie sich nachts zu ihr schleichen, oder beobachten, wie Sie mit ihr reden.«
Michael legte das Bulletin zur Seite und ging mit schweren Schritten zur Toilette, die sich außerhalb des alten Sekretariats befand. Dort bückte er sich über das gesprungene Waschbecken und ließ sich kaltes Wasser über den Kopf laufen. Als er sich die Haare mit dem karierten Militärhandtuch trocknete, das Mojsch für ihn auf eines der Betten in seinem Zimmer gelegt hatte, dachte er an Awigail, an ihre seidigen Haare und an ihre verborgene Verletzlichkeit, und fühlte plötzlich den stechenden Schmerz wegen Maja, ein fast abstrakter Schmerz, doch immer noch lebendig. Wieder packte ihn die Angst, und Naharis Worte hämmerten in seinem Kopf wie das Schlagen großer Trommeln. Er sah Mojschs angespanntes Gesicht vor sich, und das blaß werdende Gesicht Jojos, der die Augen senkte, wenn er mit ihm sprach, und Osnats Sohn, den Soldaten, mit den abgebissenen Fingernägeln.
Osnats Artikel, unter der Überschrift »Vom Schreibtisch des Sekretärs«, stand zwischen einem Foto von der Baumwollernte und den Glückwünschen für Dedi, der seinen Flugkurs erfolgreich abgeschlossen hatte.
Osnat berichtete von einem Seminar, an dem Dutzende von Kibbuzsekretären teilgenommen hatten, und das den Titel »Gegenseitige Haftung« trug. Wieder las er den vorletzten Absatz, als wolle er ihn auswendig lernen.
»Neben vielen anderen Fragen (ob es eine gegenseitige Haftung um jeden Preis überhaupt gebe, zum Beispiel auch bei Vertrauensbruch, bei Unterschlagungen oder auch beim Verkauf von Gemeinschaftseigentum, angeblich zugunsten des Kibbuz, wie es bei einigen Funktionsträgern der Fall war, die sich aufgeführt haben, als seien sie das Gesetz und könnten tun, was sie wollten), gab es das allgemeine Gefühl, es gehe um eine tiefe und bedeutungsschwere Krise, die man nicht durch diese oder jene Korrektur beheben kann, sondern nur, indem man mutig und vernünftig die Grundlagen und die allgemeine Entwicklung überprüft.«
Dann fiel sein Blick wieder auf den Bericht des Sekretariats, in dem es um »Darlehen für Söhne/Töchter des Kibbuz« ging, die ein Jahr außerhalb verbringen wollten. Mechanisch las er die Worte: »... eine bestimmte Summe für den Anfang als Darlehen, das in den ersten vier Monaten zurückgezahlt werden muß.« Dann kehrte er zu dem Arti kel »Neues vom Schreibtisch des Sekretärs« zurück, zum letzten Absatz von Osnats Bericht.
»Der Kibbuz muß sich selbst als Gemeinschaft rekonstruieren, die das Individuum als Ziel hat und in der die kollektive Gleichheit nur das oberste Mittel ist, um dessen Entwicklung und Vervollkommnung zu realisieren. Ein solcher Kibbuz hätte die Kraft, mit anderen Rivalen auf dem Markt für ›ein
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