Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
gutes Leben‹ zu konkurrieren, ein Faktum, das immer relevanter wird, je mehr die alten Ideale und die zionistischen Werte an Attraktivität verlieren. Die Stimmung war nicht deprimiert oder verzweifelt, man sah eine Bewegung mit stabilem menschlichen Potential an einer historischen Wegkreuzung stehen und überlegen, welche Richtung sie einschlagen solle. Der Eindruck war: Wenn die Richtung feststeht, wird die Bewegung die Kraft haben, vorwärts zu stürmen.«
Was Michael beunruhigte, war die Diskrepanz in dem allgemein gehaltenen, pathetischen Bericht und dem in Klammern stehenden Passus im vorletzten Absatz. Alles andere schienen Zitate aus den Vorträgen zu sein, die beim Seminar gehalten worden waren, nur der Teil in Klammern war konkret und interessant.
Das Gefühl, keine Zeit zu haben, schnell agieren zu müssen, verdrängte die Angst, die ihn vorher überfallen hatte. Vorsichtig faltete er das Bulletin zusammen und machte sich auf den Weg zum Speisesaal. Mojsch war nicht da. Michael holte eine Tasse Kaffee aus dem großen Behälter, goß warme Milch dazu und bestrich sich ein Brötchen mit Olivenkäse und setzte sich dann an einen Tisch in einer Ecke. Es war Viertel nach sieben, der Speisesaal war fast leer. Jemand nickte zu ihm herüber, ohne zu lächeln. Die vier Männer in Arbeitskleidung, die am Tisch hinter ihm saßen, sprachen nicht miteinander. Sein Blick fiel auf Gutas schwarze Gummistiefel am anderen Ende des Raums. Sie saß dort und schnitt hingegeben und versunken Gurken und Tomaten für ihren Salat. Nachdem er verwirrt festgestellt hatte, daß seine Kaffeetasse leer war, schob er das Brötchen zum anderen Ende des Tisches, weil er es nicht über sich brachte, es in den Kolboinik zu werfen, das Gefäß für den Abfall, das mitten auf dem Tisch stand, er erhob sich, ging hinaus und schlug die Richtung zum neuen Sekretariat ein. Erst beim Gehen kam ihm der Gedanke an die doppelte Bedeutung des Worts »Kolboinik«, zum einen ein Abfallbehälter, zum anderen aber auch eine Bezeichnung für Leute wie Dave, die goldene Hände hatten, die alles reparieren konnten.
Mojsch war schon in seinem Büro. Durch die offene Tür konnte Michael seine Stimme hören, und als er hineinschaute, sah er Mojschs Rücken. Er hatte den Bürostuhl zur Seite gedreht, schaute aus dem großen Fenster und sprach in den grauen Telefonhörer. Michael warf einen Blick hinaus auf den grünen Rasen und die Zypressen vor dem neuen weißen Sekretariatsgebäude. Erst als er »Entschuldigung« sagte und an die offene Tür klopfte, drehte Mojsch sich mit dem Stuhl um und deutete mit einer nervösen, abgehackten Gebärde auf den freien Stuhl ihm gegenüber. Sein Gesicht war blaß und angespannt. Er beeilte sich, das Telefongespräch zu beenden. »Sag mir Bescheid, wenn ihr wißt, wie groß der Schaden ist.« Dann wandte er sich an Michael und fragte, ob etwas passiert sei. »Nein, nichts«, antwortete Michael, und Mojsch sagte seufzend: »Wieder ist ein Schakal in den Hühnerstall eingebrochen und hat sich ein schönes Leben gemacht.«
Michael zog das Bulletin aus dem braunen Umschlag, den er in der Hand hielt, und faltete es vor Mojsch auseinander, auf dem Stapel Papiere, der ordentlich mitten auf dem Tisch lag.
Mojsch blätterte es durch, hob dann erstaunt den Blick und fragte schließlich: »Was soll das heißen?«
»Stand in dieser Ausgabe nicht etwas, was Sie beunruhigt hat?« fragte Michael und nahm sich einen dünnen schwarzen Marker aus einem Bleistifthalter, der aus mehreren zusammengeklebten und mit einer dicken Schicht blauer Farbe bemalten Klopapierrollen bestand, die auf einem viereckigen Karton befestigt waren. Auf dem Karton stand in bunten Buchstaben: FÜR PAPA, FÜR SEINE NEUE ARBEIT.
»Nein«, sagte Mojsch erstaunt und müde. Und mit einem Ausdruck von Ich-habe-keine-Kraft-für-solche-Spiele fügte er hinzu: »Warum sagen Sie mir nicht einfach, was los ist? Von wann ist die Ausgabe?« Er blätterte in dem Bulletin und betrachtete das Foto vom Ende der Baumwollernte. Für einen Moment zogen sich seine Augen zusammen, als sein Blick auf den jungen Mann in der Ecke des Fotos fiel. »Mein ältester Sohn«, sagte er zu Michael. »Und der Junge daneben ist der Sohn von Osnat.« Er seufzte. Der plötzliche Schmerz in seinen Augen wurde jetzt von Verständnislosigkeit überdeckt. »Was haben Sie da gefunden?« fragte er.
»Vielleicht lesen Sie das mal«, schlug Michael in gleichgültigem Ton vor und deutete mit dem
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