Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
haben, ich bin nur angespannt, und an meiner Stelle wärst du das auch. Ich habe das Gefühl, wir stehen vor einer Explosion.«
Sie seufzte. »Nein, mir werden sie nichts tun, das weiß ich, aber vielleicht jemand anderem. Sag ihm, ich wollte ihn nur daran erinnern, daß heute eine Sicha stattfindet, er soll alles liegen- und stehenlassen und herkommen. Er hat noch nicht mal die Tagesordnung gesehen, und die ist sehenswert!«
Sie schwieg einen Moment. »Nein, nicht am Telefon«, sagte sie. »Es kommen immer mehr Leute, ich muß gehen. Sag ihm Bescheid.«
Michael Ochajon blickte aufmerksam auf den kleinen Bild schirm. Er verkniff sich ein Lächeln, als er Guta neben Fanja sitzen sah, die erwartungsgemäß ein Strickzeug in den Händen hielt und die Nadeln klappern ließ. Er sah gerade noch die zusammengebissenen Lippen, den eingefallenen Mund, bevor die Kamera zur Seite geschwenkt wurde. Er blickte Awigail an, die neben ihm saß, zusammengerollt in dem großen, schweren Sessel, der nach modriger Wolle roch. Wie immer trug sie Jeans und ein weißes, langärmliges Hemd mit Bündchen an den Handgelenken. Er hielt mit beiden Händen eine Kaffeetasse fest, während auf dem Porzellanteller eine Zigarette vor sich hin glühte.
Awigail sagte kein Wort. Die Spannung, die von ihr ausging, steckte ihn an. Während sie darauf warteten, daß die Sicha anfing, dachte Michael wieder an Jojo, der blaß und schwitzend in dem klimatisierten Raum in Petach Tikwa gesessen und immer nur wiederholt hatte: »Das ist nur ein zufälliger Zusammenhang, viele von uns hatten so ein Ding, und es ist Jahre her, viele, viele Jahre ...« Michael dachte auch an die graue Karte mit dem schwarz umrahmten Text, der besagte, daß Elchanan (Jojo) Eschel berechtigt sei, Parathion zu verwenden.
Awigails Stummheit beeinträchtigte seine Konzentra tion. Er überlegte, was sie seit dem letzten Mal, bevor Jojo abgeholt wurde, erlebt hatte.
Den längsten Satz, den er bisher von ihr gehört hatte, war ihre Antwort auf seine Frage gewesen, wie es ihr gehe. Er hatte vorhin, nachdem sie sorgfältig die Tür geschlossen hatte, noch im Eingang gestanden, während sie ihm schon die Tagesordnung der heutigen Sicha von einer Kopie vorlas, die sie in der Hand hielt. Er unterbrach sie und fragte: »Wie geht es dir, Awigail?« Ihm blieb nicht verborgen, daß sie auf die Wärme in seiner Stimme reagierte. »Sie steckt an, die Angst, die sie alle haben, diese Anspannung«, hatte sie gesagt. Er hatte genickt und verständnisvoll geantwortet: »Es ist schwer für dich, Awigail.« Ihre Augen waren feucht geworden, und er hatte einen kleinen Triumph bei dem Gedanken gespürt, eine Bresche in die Festung geschlagen zu haben. Er hätte sie gerne berührt, konnte aber den Blick nicht vom Bildschirm lassen, auf dem die Versammlung übertragen werden würde. Noch etwas hielt ihn davon ab: die Verletzlichkeit, die sie ausstrahlte, bei deren Anblick er, neben dem kleinen Triumph, auch ein schlechtes Gewissen spürte.
Er war sich der Wirkung bewußt, die er auf verzweifelte Menschen hatte – vor allem auf einsame, vor allem auf solche, die ihre Einsamkeit aus Stolz verbargen und sich mit ihr abgefunden hatten –, doch zugleich meinte er Majas Stimme zu hören, die sagte: »Manchmal zeigst du eine Form von Mitleid, das Leuten, die dich nicht kennen, herzlich vorkommen mag, aber für mich klingt es wie eine Übung, eine Übung in Sensibilität, die dazu bestimmt ist, deinen Zuhörer einzuwickeln. Und was hast du ihm dann wirklich anzubieten?« Tatsächlich aber – er seufzte, als er den Titel des Buches las, das aufgeschlagen auf dem Boden neben ihren Füßen lag, »Chronik eines angekündigten Todes« – weckte Awigail wirklich starke Gefühle in ihm, die jetzt schon lange geschlafen hatten, und etwas an ihrem Leiden zog ihn an. Diese Gefühle spontan auszudrücken, dazu war er noch nicht in der Lage.
Er fragte, ob sie etwas Neues zu berichten habe. Sie fuhr auf. »Wenn das so wäre, hätte ich es schon getan.«
»Trotzdem, ist irgend etwas passiert?« fragte er.
»Nein, nur in meinem Kopf passieren Sachen. Und diese Sache mit dem Zeitdruck, unter den uns Nahari setzt ...«
»Awigail«, sagte Michael entschieden, »das ist nicht deine Verantwortung, nimm dir das von den Schultern, nur ich habe mich zur Einhaltung einer Frist verpflichtet. Außerdem kann bis Montag noch viel passieren, wir haben schließlich erst Samstag abend ...«
»Nur in Büchern kommt das
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