Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
vor«, sagte Awigail.
Er schaute auf seine Uhr. »Es ist schon nach neun, warum fangen sie nicht an?«
»Bestimmt warten sie darauf, daß noch welche kom men«, sagte Awigail und zog die Nase hoch. »Die ganze Woche haben sie schon darüber gesprochen, wie sie es schaffen könnten, daß mehr als zwanzig Leute teilnehmen. Ich habe gehört, wie Mojsch im Speisesaal zu jemandem gesagt hat, wenn fünfunddreißig Chawerim kommen, würde er das für einen Fortschritt halten.«
»Ich verstehe sie nicht«, sagte Michael erstaunt. »Sie sind hier doch daheim, und die Sicha ist der Rahmen, in dem alle wichtigen Dinge beschlossen werden.«
»Ich weiß nicht, bei wie vielen Sichot du schon gewesen bist«, meinte Awigail, »manchmal soll es da richtig widerlich zugehen. Wart's ab, du kannst hier alles sehen, alles. Alle persönlichen Abrechnungen, den Wunsch der einzelnen zur Macht, alles.«
»Hier ist dein Anbeter, nicht wahr?« sagte Michael, als die Kamera zu Boas schwenkte. Neben ihm saß Towa, auf der anderen Seite Joske.
Awigail schwieg.
»Macht er dir noch Schwierigkeiten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Aber es gibt da noch einen.« »Wen denn?« fragte Michael mit scheinbarer Gleichgültigkeit und steckte sich eine Zigarette an.
»Roni, der Verantwortliche für das Werk.«
»Ich kenne ihn«, sagte Michael. »Ich habe gestern lange mit ihm gesprochen.«
»Über Jojo, nehme ich an«, sagte Awigail. »Wann erzählst du mir, was los ist?«
»Wenn das hier fertig ist«, antwortete Michael, die Augen auf den flimmernden Bildschirm gerichtet.
»Er kontrolliert meine Telefonanrufe, die nach draußen und die innerhalb. Weißt du, daß die Anrufe mit Nummern und allem gespeichert werden?«
Michael nickte.
»Er wollte wissen, ob ich einen Freund in der Stadt habe und so.«
Michael drückte die Zigarette im Teller aus.
»Sie wollen alles wissen, sie sind hemmungslos. Einerseits laden sie mich nicht in ihre Zimmer ein – obwohl sie mich auffordern, an ihren Zirkeln teilzunehmen –, und andererseits fragen sie mich, Jochewed zum Beispiel, was für Probleme ich habe. ›Ein hübsches Mädchen wie du ...‹ und so weiter. Ich war nur bei Mojsch im Zimmer, und auch das nur einmal. Ach ja, und bei Dave.«
»Du bist erst eine Woche hier«, erinnerte sie Michael.
Awigail schwieg und dachte nach. »Ja«, sagte sie dann, »aber es kommt mir viel länger vor. Und dieser Zeitdruck, daß ich unbedingt etwas herausfinden muß und nichts finde ... Ich fühle mich wie in einem Thriller, in dem etwas Furchtbares passieren wird und ich nicht weiß, von welcher Seite es kommt.«
»Ist dir nicht heiß?« Michael erschrak über seine eigene Frage.
»Nein«, sagte Awigail. Ihr Gesicht wurde hart und abweisend, als er auch noch, gegen seine Absicht, sagte: »Du hast immer lange Ärmel an.«
Awigail schwieg. Ihr Schweigen hatte etwas Souveränes. Sie konnte ohne Verlegenheit schweigen und mußte nicht das Zimmer mit ihrer Stimme füllen, nur um ein bedrückendes Schweigen zu beenden. In dieser Kraft, zusammen mit der Verletzlichkeit, lag etwas Gezügeltes, Zurückhaltendes. Aber auch Anziehendes.
Michael schaute den Bildschirm an und dachte – nicht zum ersten Mal – an Balilti und an die Vorteile, die er selbst hätte, wenn der Jerusalemer Polizist an diesem Fall beteiligt wäre statt des Verbindungsoffiziers des Distrikts Lachisch, ein Mann ohne Visionen, der bis jetzt nichts gebracht hatte als den Kontakt zu einem Börsenmakler.
Dave saß in der ersten Reihe, nicht weit von Towa und Boas. Neben ihm saß Jankele, und in der Reihe hinter ihm entdeckte Michael für einen Moment Dworka, daneben Se'ew Hacohen und Jochewed. Hinter Jochewed saßen ein paar ältere Leute mit ernsten, gespannten Gesichtern. Die Kamera, von laienhafter Hand bewegt, schwenkte weiter, aber Michael hatte noch Dworkas zusammengepreßte Lippen gesehen, ihre zusammengebundenen Haare, die funkelnden Augen. Einen Moment überlegte er, ob er etwas zu Awigail sagen sollte, doch ein Blick zur Seite, auf ihre zusammengesunkene Gestalt und die verschränkten Hände, hinderte ihn daran. Se'ew Hacohen legte ein Bein über das andere und wippte rhythmisch mit der Sandale über dem Knie. In der Stuhlreihe vor den Zuhörern saßen Mojsch und die Mitglieder der verschiedenen Komitees. Mojsch flüsterte Schula, die neben ihm saß, etwas zu, und sie begann zu sprechen.
»Guten Abend, alle zusammen.« Sie sagte, sie sei froh, dreiundvierzig Mitglieder zählen zu können, das
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