Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
»Er ist doch nicht der einzige, der ein Verhör führen kann, es gibt noch andere. Ich kann nicht alle fünf Minuten jemand anderem alles erklären, er kennt die Leute und alles. Soll doch Nahari ihn verhören, oder ein anderer ...«
Mit ihrer freien Hand wischte sie sich über die Stirn. »Wen meinst du damit? Machluf Levi? Es gibt eine Grenze, oder nicht?« Den ganzen Tag schon taten ihr die Ellenbogen weh und juckten. Durch die Glaswand, die die Eingangshalle von dem davorliegenden Platz trennte, sah sie die ersten Leute zum Mittagessen kommen, einige von ihnen waren offenbar im Schwimmbad gewesen, sie hängten ihre Handtücher an die Haken, neben die Mützen und Taschen. Awigail sah eine Gruppe von Leuten, offenbar eine Familie, die von Schula zum Speisesaal geführt wurde. An ihrer Kleidung und dem Make-up der Frau, die unsicher neben Schula herlief, an der gespielten Gelassenheit des Mannes, der neben Arik, Schulas Mann, herlief, und an dem lauten Gekicher der beiden halbwüchsigen Mädchen ließ sich unschwer erkennen, daß sie Gäste aus der Stadt waren. Nur Schula und Ariks Sohn, den Daumen im Mund und hingegeben lutschend, zeigten keine Anzeichen von Aufregung.
Von unten drangen Gerüche zu ihr herauf, einige konnte sie leicht identifizieren: die Reste des Hühnergerichts von gestern, Würstchen in Brotteig, Frikadellen, gekochter Kohl. Fast lächelte sie bei dem Gedanken, daß sie, ohne hinzuschauen, die Speisekarte voraussagen konnte, doch der Hörer war feucht von ihren Händen. Sie sah zu, wie ein Mann mittleren Alters vor dem Speisesaal ankam. Die Art, wie er sein Fahrrad in den Ständer schob und auf die beiden Kinder wartete, die noch heftig in die Pedale ihrer Dreiräder stießen, hatte etwas Groteskes. Er ließ die Kinder ihre Fahrräder neben seinem abstellen, und mit einem Ausdruck beobachtender Aufmerksamkeit, der didaktischen Haltung eines Menschen, der weiß, wie wichtig es für Kinder ist, selbständig zu werden, beugte er sich nicht zu dem kleineren der beiden Kinder, einem ungefähr Dreijährigen, um ihm zu helfen, als er über das Pedal eines danebenstehenden Fahrrads stolperte und hinfiel, sondern ließ ihn selbst wieder aufstehen. Erst als der Kleine zu weinen anfing, sagte der Vater ganz ruhig: »Komm zu mir, Awischai, schauen wir mal, was dir passiert ist.« Doch Awischai, nackt bis auf die Unterhose, schlug sich mit den Händen auf die dicken, braunen Hüften. Er blieb stehen, wo er war. Der Vater ging nicht zu ihm, sondern wartete am Eingang, neben der Glaswand.
Awigail nahm die Szene mit einer Genauigkeit in sich auf, die sie selbst erstaunte. Sie konnte das Weinen nicht hören, nur die Worte des Vaters, der noch immer am Eingang wartete. Das kleine Mädchen, ebenfalls in Unterhosen, stand neben ihm, mit dicken, kräftigen Ärmchen und Grübchen in dem braunen Gesicht, das von den glatten, blonden Haaren halb verdeckt wurde. Awigails Blick wanderte zu dem Jungen, der immer noch draußen stand. Schließlich wischte er sich mit den Fäusten die Tränen ab und lief zu seinem Vater und seiner Schwester. Als die drei durch die Halle gingen, an ihr vorbei, hörte sie, wie der kleine Awischai sagte: »Ich hab das immer gekonnt, nur jetzt nicht.« Mit derselben didaktischen Ruhe antwortete der Vater: »Ich bin sicher, daß du das immer gekonnt hast. Aber manchmal klappt es eben nicht.«
Auf der anderen Seite hörte sie einen Mann zu einem jungen Mädchen sagen, das gerade hinter einem Pfeiler hervortrat: »Du kannst nicht barfuß in den Speisesaal gehen.« Und durch die Glaswand sah sie eine Gruppe von drei skandinavischen Volontärinnen ankommen, eine von ihnen mit einem bösen Sonnenbrand, die zweite, der Awigail erst gestern eine Salbe gegen die Blasen an ihren Händen gegeben hatte, lächelte sie freundlich an.
Nun drehte sich Awigail um, mit dem Gesicht zur Wand, und flüsterte in den Hörer: »Hör zu, ich will folgendes sagen: Meiner Meinung nach muß er an der Sicha heute teilnehmen, das heißt zuhören, und das weiß er auch. Nein«, sie schrie nun leise, »nein, das kommt nicht in Frage, er weiß das, ich darf auch nicht rein, wir können es uns nur im Video anschauen. Nein, ich kann es nicht aufnehmen, wie auch, da muß Machluf ein Aufnahmegerät bringen. Reinkommen ist ausgeschlossen, und die Sicha würde auch völlig anders ablaufen, wenn er persönlich anwesend wäre.«
Sie flüsterte nun lauter: »Nein, ich gebe nicht klein bei, ihr braucht kein Mitleid mit mir zu
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