Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
zweifeln, in jeder Hinsicht, solange wir nicht eines anderen belehrt werden.«
Jochewed flüsterte Matilda etwas zu.
Michael schaute Awigail an. Ihr Blick hing am Bildschirm. Er wußte, daß sie seinen Blick bemerkt hatte. Mojsch sagte nun: »Entschuldigt die Phrasen, aber wie soll ich es sagen? In mir weckte Osnats Tod Gedanken an die Vergänglichkeit des Lebens. Auch der Herzanfall Aharons, an den viele von euch sich erinnern werden. Als würde unsere Generation verschwinden, ohne daß wir sehr viel Eigenes hier vollbracht haben.«
Jemand rief etwas, und Mojsch sagte: »Bitte laßt mich ausreden, ohne mich zu unterbrechen, es fällt mir auch so schon schwer genug.« Mojsch sah aus wie jemand, der seine ganze Kraft zusammennimmt. Michael betrachtete seine breiten Hände, die vollkommen bewegungslos waren. Nur seine Blässe und die hastigen Atemzüge zeigten seine Erre gung. »Natürlich hat auch Srulkes plötzlicher Tod die Sa che nicht einfacher gemacht. Ich will darauf hinaus, daß es an der Zeit ist, daß wir unserer Gesellschaft einen Stempel aufdrücken, so wie es die Generation unserer Eltern getan hat. Solange Osnat lebte, habe ich das nicht so stark empfunden. Jetzt, wo sie nicht mehr da ist, möchte ich erklären, daß ich das Gefühl von etwas habe, was man eine Mission nennen könnte. Ich fühle, daß Osnat ... daß wir das fortführen müssen, was sie begonnen hat.«
Mojsch schwieg und berührte das Blatt vor ihm. Michael bemerkte Fanja, die unermüdlich strickte, und Guta, die die Stirn in Falten zog. Dworka hatte das Kinn in die Hand gestützt und schaute Mojsch aufmerksam an. Se'ew Hacohen nahm das übergeschlagene Bein herunter und stellte beide Füße nebeneinander. Er verschränkte die Arme und hörte mit leicht geneigtem Kopf zu, eine Pose, die früher, als er jung war, bestimmt mal sehr charmant ausgesehen hatte, jetzt aber zu jugendlich wirkte, fast grotesk. Jocheweds Gesicht verdüsterte sich immer mehr, je länger Mojsch sprach.
»Ich fühle, daß wir die Frage der Neuorganisation unse res Lebens im Kibbuz wieder aufnehmen müssen, und zwar unter dem Aspekt der Beziehung zwischen der Familie und der Gemeinschaft. Ich zitiere aus dem, was Osnat geschrieben hat, und vielleicht kann ich nicht so gut reden wie sie, aber ich habe ihre Vision verstanden, so wie viele von uns sie verstanden haben.« Er sprach tief bewegt, mit beschämtem Pathos in der Stimme. »Ich möchte nicht, daß nun, da Osnat tot ist, alles verlöscht wie nichts.«
»Was soll das heißen, wie nichts?« sagte Towa aus dem Publikum. »Schließlich gibt es einen Kibbuz-Ausschuß, den wir extra für solche Fragen gegründet haben. Man könnte glauben, daß ohne Osnat ...«
»Ja, ich weiß«, unterbrach sie Mojsch, »aber ich möchte, daß wir über das alles auch in Erinnerung an Osnat sprechen.« Er hüstelte verlegen. »Osnat war eine Art Stützpfeiler des Kibbuz, vor allem in den letzten Jahren. Ich möchte, daß wir eine sofortige Entscheidung diskutieren, was die Übernachtung der Kinder in der Familie betrifft, und daß wir auch noch einmal sachlich und gewissenhaft über das Projekt einer regionalen Altensiedlung reden.«
Jetzt stand Matilda auf, so daß man ihren runden Bauch sah, fuchtelte mit den schweren Armen durch die Luft und schrie: »Fangt ihr wieder damit an?«
Auch Dworka erhob sich. Ihre magere, aufrechte Gestalt strahlte Autorität aus. Matilda schwieg und setzte sich wieder. Mit einem trockenen, didaktischen Ton, unaufgeregt und bestimmt, sagte Dworka: »Schau, Mojsch, wir haben schon einige Male darüber gesprochen. Das ist ein sehr kompliziertes Problem, das sich nicht so leicht lösen läßt. Wir werden Osnat keinen Grabstein errichten, wenn wir eine für den einzelnen und für die Gemeinschaft destruktive Situation schaffen. Osnat selbst wußte auf alle möglichen Fragen keine Antwort, sogar auf triviale nicht, zum Beispiel darauf, wer bei den Kindern bleibt, wenn sie mal krank sind und wenn es den Rahmen des Kinderhauses nicht mehr gibt. Ihr vergeßt manchmal, daß wir hier eine produktive, gleichberechtigte Gesellschaft gegründet haben, lange bevor die Feministinnen ihre Büstenhalter verbrannt haben. Hier ist der einzige Ort, an dem eine Frau wie ein Mann arbeiten kann, dank der Bedingungen, die wir schon zur Pionierzeit geschaffen haben, um ihr ein selbsterfülltes Leben zu ermöglichen. Aber das nur nebenbei. Osnat hat immer gesagt, daß sich diese Probleme lösen werden, wie es andernorts
Weitere Kostenlose Bücher
Eis und Dampf: Eine Steampunk-Anthologie (German Edition) Online Lesen
von
Mike Krzywik-Groß
,
Torsten Exter
,
Stefan Holzhauer
,
Henning Mützlitz
,
Christian Lange
,
Stefan Schweikert
,
Judith C. Vogt
,
André Wiesler
,
Ann-Kathrin Karschnick
,
Eevie Demirtel
,
Marcus Rauchfuß
,
Christian Vogt