Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
den Fehlern, die ihr gemacht habt, stellen, wie die Leute in den anderen Kibbuzim auch«, sagte er jetzt ruhiger. »Ich möchte, daß ihr Schuldgefühle habt, warum sollt ihr euch nicht schuldig fühlen? Sonja ist schon nicht mehr da, aber wenn sie jetzt hier wäre, könnte ich ihr etwas von den Jahren erzählen, als meine Mutter mich nur eine halbe Stunde am Tag sehen durfte. Ihr habt euch alles so organisiert, daß ihr es bequem habt. Um der Gleichheit willen habt ihr dafür gesorgt, daß wir ein Gruppen-Ego bekommen, aber unser eigenes persönliches Ego habt ihr zerstört. Was für ein Selbstbewußtsein können Kinder entwickeln, die nachts nur sich gegenseitig haben? Und selbst das nur im besten Fall. Dabei spreche ich noch nicht mal von der Pubertät, über die gemeinsamen Duschräume und all die anderen Zwänge! Ich habe genug davon, immer nur zu verzeihen und die schwere Vergangenheit zu verstehen. Ich möchte wissen, was in euren Köpfen vor sich ging, wenn ihr uns von außen im Kinderhaus eingeschlossen habt, als wir klein waren, und den Bewacher angewiesen habt, zweimal in der Nacht vorbeizuschauen. Zweimal! Zwei ganze Male! Und wir haben ganze Nächte an der Tür gestanden und geklopft und geweint, und niemand ist gekommen. Ich könnte jedesmal vor Wut platzen, wenn ich daran denke. Man könnte verrückt werden.« Er beugte sich vor und begann wieder zu schreien: »Denkt an die kleinen Kinder von heute, die dort an der Tür stehen und weinen!«
»Kaum zu glauben«, sagte Michael und zündete sich eine Zigarette an. »Da läuft ganz schön was ab.«
Awigail sagte nichts.
»Und dann die Nächte, als wir größer waren und zu euch gelaufen sind – und ihr uns dann ordnungsgemäß ins Kinderhaus zurückgebracht habt! Ich erinnere mich sehr gut daran, wie Srulke aufgestanden ist und mich zurückge bracht hat. Zweimal hat man mich vor der Tür meiner Eltern gefunden, dort habe ich mich schlafen gelegt, damit sie mich nicht zurückbringen konnten.«
Se'ew Hacohen stand auf, aber Mojsch brüllte weiter: »Du kannst dich wieder setzen. Ich habe nicht vor zu schweigen. Jetzt, wo ich angefangen habe zu reden, schweige ich überhaupt nicht mehr. Du wirst warten, bis ich fertig bin, ihr alle werdet warten, bis ich fertig bin.« Se'ew Hacohen ließ sich verängstigt wieder auf den Stuhl fallen. »Mir ist eure Gleichheit egal«, schrie Mojsch. »Wir sind auch nicht gerade die Zierde des Staates! Man sagt über unsere jungen Leute, sie wären materialistisch und all das. Ist es ein Wunder? Wie anders können sie das kompensieren, was ihnen als Kinder vorenthalten wurde? Ihr hattet wenigstens Ideale, hinter denen ihr euch verstecken konn tet. Hinter was können wir uns heute verstecken? Hinter der Arbeit? Ist die Arbeit unser ganzes Leben? Dafür habt ihr einen Kibbuz gegründet? Die Zierde des Staates! Ja, natürlich!«
Mojsch blickte hinauf zur Decke und hob den Finger, als er sich wieder an die erste Reihe wandte. »Eines unserer Mitglieder ist ermordet worden, und wir wissen nicht, warum und wer es war. Aber was Osnat tun wollte, mache ich jetzt. Es gibt keinen Grund auf der Welt, warum unsere Kinder von Leuten erzogen werden sollen, die nicht ihre Eltern sind, zum Teufel mit allem.« Er schaute geradeaus und sagte giftig: »Nein, Matilda, ich bin nicht plötzlich verrückt geworden, im Gegenteil, ich bin bis heute verrückt gewesen. Die meisten Kibbuzim haben es schon getan, und wir können es finanziell leicht schaffen. Trotzdem ziehen wir eine Entscheidung in die Länge, als handle es sich um etwas Nebensächliches. Ich werde meinen Assaf abends zudecken, hörst du, Dworka? Ich werde auf mein Kind selbst aufpassen, ich und kein elektrischer Babysitter, ich und niemand anders. Ihr habt nur an den ersten Zahn gedacht, aber nicht an unsere ersten Ängste, die wir euch noch nicht mal erzählen konnten, weil wir so klein waren. Und ich frage dich, Dworka, welches Ideal kannst du mir vorhalten, wenn es um die Angst und die Einsamkeit eines Kindes geht, das noch nicht sprechen kann, was heißt da Kind, ein Säugling! Ich sehe, wie meine Schwester in der Stadt ihre Kinder aufzieht. Ich sage nicht, daß sie alles haben und daß sie mit einem Proviantkorb und Schokolade und Eis zu Picknicks fahren oder mit drei Jahren anfangen, Klarinette spielen zu lernen, aber bis heute haben sie die Ängste, die ich hatte, nicht gehabt. Und das ist es, was ich euch heute zu sagen habe: Unsere Kinder werden bei uns schlafen, und auch
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