Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
auf den Bildschirm. »Du verstehst es nicht«, sagte er heiser, »sie läuft nicht die ganze Zeit mit diesem Buch in der Tasche herum, sie hat das vorbereiten müssen. Ich bin mir sicher, sie hat das ganze Drama vorausgesehen, sie hat gewußt, was heute abend dort ablaufen würde.«
»Sie hat erschreckende Augen«, sagte Awigail. »Sie gefällt mir nicht.«
Michael versuchte, wieder ruhiger zu atmen. Er steckte sich eine Zigarette an und stand auf, ohne den Bildschirm aus den Augen zu lassen. Angst hatte ihn gepackt, fast Horror. Dworka kam ihm anders vor als sonst. Sein Gesicht brannte, als sei er Zeuge eines schrecklichen Geschehens.
»Ich habe das vor allem wegen des letzten Satzes vorgele sen«, sagte Dworka langsam, jedes einzelne Wort beto nend. »Aber auch, damit ihr seht, daß sie früher keine Angst davor hatten, Gefühle auszudrücken, und daß es innerhalb der Familie, der Kibbuz-Familie, legitim war, sich frei zu äußern. Der letzte Satz, der von den Kämpfen erzählt, ist der wichtigste. Wir müssen uns ständig prüfen, wieder und wieder, um zu sehen, ob die Welt, die wir aufgebaut haben, richtig ist, und wenn sie es ist, lohnt es sich, sie zu bewahren.«
Dave starrte sie mit aufgerissenen Augen an und bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen, wie einer, der den Weisheiten eines Rabbi lauscht oder ein seltenes Tier bestaunt.
Der dramatische Ton war aus ihrer Stimme verschwunden, als sie sachlich weitersprach: »Was das gemeinsame Schlafen der Kinder betrifft, so kann ich keinen Nachteil entdecken. Denkt an eure eigene Generation – ist irgend etwas schlecht daran? Und die Erinnerungen, die gemein samen Abenteuer? Und daß jeder Chawer und jede Cha wera in die Entwicklung jedes einzelnen Kindes im Kibbuz involviert ist? Wir alle wissen, wann jemandem der erste Zahn ausgefallen ist, wann jeder von euch den ersten Schritt getan hat, das hat doch eine wunderbare Intimität zur Folge. Ihr seid die lebendigen Beweise für den Erfolg des Versuchs, den wir mit solcher Hingabe und Treue ausgeführt haben.«
Doch Matilda sagte mit dem bösen Lächeln, das Michael schon kennengelernt hatte: »Das muß sich noch herausstellen, wie gut gelungen ihr wirklich seid, aber vorläufig könnt ihr euch über dieses Kompliment freuen.«
»Was ist mit dem Altersheim?« fragte Guta. »Das will ich wissen.«
»Diese beiden Dinge kann man unmöglich gleichzeitig diskutieren«, entschied Dworka.
»Osnat hat es für möglich gehalten«, sagte Mojsch. »Sie hat es sogar für notwendig gehalten.«
Dworka preßte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, dann öffnete sie mit einer Selbstbeherrschung, die ihr sichtlich schwerfiel, den Mund und sagte: »Du weißt, daß ich deshalb Meinungsverschiedenheiten mit ihr hatte.«
»Es gibt immer Meinungsverschiedenheiten«, sagte Se'ew Hacohen besänftigend, »und wir müssen nichts überstürzen. Ich persönlich habe nichts gegen eine Siedlung für alte Mitglieder, solange es den Alten nicht das Recht nimmt, abzustimmen und am Kibbuzleben teilzunehmen. Und was das Wohnen bei der Familie betrifft, denke ich, wir sollten der Sache offen gegenüberstehen.«
Dworka unterbrach ihn mit einer für sie untypischen Ungeduld. »Jedenfalls ist es klar, daß die Mehrheit diese Pläne für nicht akzeptabel hält, weil sie die ganze Idee, auf der unser Kibbuz ruht, untergraben.« Nach einem tiefen Atemzug fügte sie verächtlich hinzu: »Und bringt jetzt ja keine anderen Kibbuzim als Beispiel an. Die Versuchung, mit der Zeit zu gehen und irgendwelchen Moden nachzulaufen, darf uns nicht beeinflussen. In der Vereinigung der Kibbuzim spricht man sogar schon von Löhnen und Gehältern für die Arbeit der Kibbuzmitglieder. Angesichts solcher Diskussionen höre ich mich vielleicht anachronistisch an, aber mein Herz sagt mir, daß wir unsere Befriedigung nicht im Materiellen finden, sondern in der inneren Vervollkommnung.«
»Es ist noch nicht lange her, da hast du viel über Dynamik und notwendige Veränderungen gesprochen«, erinnerte sie Se'ew Hacohen.
»Was ist schlecht an der Art, wie wir unsere Kinder erzogen haben?« rief Dworka.
Mojschs Hände zitterten, als er jetzt aufstand. Er schaute Dworka an, und sein Blick war anders als früher, er hatte nichts Weiches mehr, nichts Entschuldigendes. »Ich kann dir genau sagen, was schlecht daran war, und das ist eine ganze Menge. Erstens haben wir nie darüber gesprochen, was los war. Ihr habt es nicht ermöglicht, ihr wolltet nichts
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